Dienstag, 13. Oktober 2009

Die Entscheidung für das Leben kann ein Fluch sein


Es gab diese Frau. Sie war nun etwa solange in dem Altenheim wie ich. Als sie zu uns kam, war sie erst Anfang Sechzig. Die Diagnose: Alzheimer. Ich konnte sie noch am Waschbecken waschen. Ich konnte sie noch führen. Und sie redete, wenn auch wirr. Ich kann mich kaum erinnern. Warum verlässt mich mein Gedächtnis? Nach fünfzehn Jahren in dieser Altenpflegeeinrichtung sah ich viele Dutzend Menschen kommen und gehen, leiden und sterben. Diese Frau ist ein Relikt aus der Vergangenheit. Sie war immer da, und sie blieb die ganze Zeit im selben Bereich - also, sie wechselte immer nur in ein Nachbarzimmer.
Seit über zehn Jahren liegt sie auf einer Wechseldruckmatratze, wird künstlich ernährt, und wenige Stunden am Tag in einen Spezial-Rollstuhl gesetzt. Inzwischen bringt sie nur noch ein Brummen hervor. Ihre Augen zucken nervös, wenn ich ihr die Windel wechsele, wenn ich sie wasche, wenn ich sie von der einen Seite auf die andere drehe. Wie eine Heuschrecke liegt sie mit angezogenen Beinen und angewinkelten Armen im Bett - eine durch die hochkalorische Sondennahrung gut genährte Heuschrecke. Ihr Hautzustand ist gut. Schon lange kann sie wegen der Aspirationsgefahr kein Essen und Trinken mehr schlucken. Ihr Kopf ist durch die Spastik überstreckt, und sie röchelt und hustet oft. Wenn sich zu viel Schleim im Rachenraum ansammelt, saugen wir sie ab. Sie gurgelt und hustet. Ihre Stirn kräuselt sich. Es riecht faulig aus ihrem Mund.
Eine alte Schulfreundin besucht sie noch. Ihre Kinder kommen schon lange nicht mehr, was ich gar nicht werten will. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es für mich wäre. Wir reden zu leicht darüber, dass wir unsere Eltern in jedem Fall pflegen und betreuen würden. Wir reden viel, wenn das Leben lang ist.
Diese Frau sagt seit Jahren nichts mehr, und doch sagt sie viel - viel über unser Denken, unsere Heuchelei und den Zustand unserer Gesellschaft. Das Leben dieser Frau ist ein Dahinvegetieren und ein ständiger Kampf gegen den aufsteigenden Schleim. Nur selten sehe ich sie ganz entspannt schlafen.
Morgen, wenn ich Nachtdienst habe, werde ich sie wieder sehen. Alles wird wie immer sein. Wir verlieren selten Worte über diese Frau, nur wenn Medikamente vom Arzt geändert wurden, oder wenn wir sie absaugen mussten. Irgendwann wurde vergessen, ein paar persönliche Bilder von ihr, von ihrer Vergangenheit, nach einem Umzug in ein Nachbarzimmer, aufzuhängen. Und ich - mache auch nichts.
Ich schreibe hier von unserer Menschlichkeit. Ich schreibe von einer innerlichen Zerreisprobe.
Es macht mich wütend, wenn Politiker und Professoren über Ethik diskutieren, währenddessen Menschen allein dadurch gefoltert werden, dass sie am Leben erhalten werden.

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