Samstag, 14. März 2009

Wie eine Schnecke ohne Haus

Nein, ich bin nicht der Typ Schnecke mit Haus. Ich schleppe so wenig wie möglich mit mir rum. Den Hausrat kann man regelmäßig ausmisten, die Kleider zur Altkleidersammlung geben, das Geschriebene redigieren - gut die Hälfte kann ich getrost wegfeuern; man kann regelmäßig zum Friseur gehen, die Zehennägel schneiden und Staub putzen, damit man in seinen vier Wänden nicht erstickt. Und ganz wichtig: Regelmäßig den Abfall rausbringen und den Elektroschrott nicht horten!
Mist, ich habe schon wieder zu viele Kaffeetassen. Die geklauten mag ich besonders gern. An ihnen hängen Erinnerungen. Die letzte nahm ich aus dem Krankenhaus mit, wo ich eine Woche mit einer Epiditymitis lag und um meine Eier bangte. Aber alles ging Gott sei Dank gut. Nein, ich sammele nicht gern. Irgendeine Kaffeetasse wird heute dran glauben müssen. Die Krankenhaustasse? Oder das Paar von der Ex? Ich mache mir die Entscheidung nicht leicht. Dann ist da noch die mit der Werbeaufschrift www.uromed.de - Katheterismuszubehör ...; außerdem habe ich noch zwei Glühweintassen ...

Okay, ich kam ganz weg von dem, was ich sagen wollte. Ich werfe gern Ballast ab. Das Leben macht einen mit der Zeit immer schwerer. Vorallem wenn man auf der Stelle sitzt/tritt. Deswegen fahre ich gern los, mit dem Fahrrad oder mit dem Zug. Wenn ich unterwegs bin, fallen viele Sachen an mir ab wie eine Kruste, die mich total überzieht, wenn ich zuhause bin. Kind und Kegel würden mich umbringen. Ich genieße mein Nacktschnecken-Dasein, auch wenn es Stunden des Sehnens nach sozialer Wärme und Geborgenheit gibt. Die Beziehung zu einer Frau kann ich mir dauerhaft nur sehr freizügig vorstellen.
So sehr wollte ich dann auch nicht Einsiedler sein, dass ich ganz ohne die Lust und die Wärme eines anderen, geliebten Menschen auskommen wollte. Auch liebe ich anregende Unterhaltungen und gemeinsame Unternehmungen. Was ich aber nicht mag, ist, dass man aufeinander hockt wie paarende Kröten. Dann kommt zu bald der Mief des gemeinsamen Alltags auf, und die Partnerin verwandelt sich nach und nach in ein Paar alte Socken oder in eine Kaffeetasse, aus der man, wenn man ehrlich ist, gar nicht mehr gern seinen Kaffee trinkt.

Manchmal stelle ich mir vor, wie es wohl wäre, wenn ich von heute auf morgen eine Amnesie bekäme.
Ich wache auf und kann mich an mein vorheriges Leben nicht mehr erinnern: Nicht an meine Eltern, nicht an meinen Bruder und meine Kindheit, nicht an die Schulzeit, an die alten Kumpels, die alten Lieben, die versoffenen Tage, die nicht fertig gebrachten Studiengänge, meine Jahre als Altenpfleger ...; alles wäre wie weg. Ich wache auf, erkenne mich zwar, aber außer mir selbst ist mir nichts mehr vertraut. Ich wundere mich über die Bücher im Regal und kann mich nicht entsinnen, sie gelesen zu haben; ich stöbere in meinen Aufzeichnungen und Gedichten und schüttele den Kopf - das soll ich geschrieben haben? Dann die Bilder: meine Bilder und die Photos aus der Vergangenheit - ich würde nichts mehr aus meinem früheren Leben erkennen. Wie frei würde ich mich mit einer solchen Totalamnesie fühlen? Könnte ich wieder von Null mit meinem (Erwachsenen-)Leben beginnen? Wäre ich noch ich?
Man muss es mit dem Ausmisten ja nicht gleich übertreiben. Meine Vergangenheit gehört zu mir. Gerade die Wunden und Dummheiten brachten mich zu dem Bewusstsein, das ich heute habe. Der Wunsch nach einem neuen Leben ist, glaube ich, ganz normal. Er ist wie der Wunsch nach Jugend, nach Unverbrauchtheit.

Fazit: Man kann sich von Vielem trennen, aber nicht von sich selbst, auch wenn man danach das Bedürfnis hat - wenigstens an Tagen, wo einem die eigene Identität wie eine lästige Kralle im Nacken sitzt und einen nieder drückt. Ich belasse es bei befristeten Ausbruchsversuchen, um meinen Träumen Nahrung zu geben. Es sind Träume vom Fliegen und von der Liebe. Es sind Träume aus Büchern und Filmen. Ich will nicht immer aus der selben Kaffeetasse trinken. Ich bin auf der Suche.
Der Roman des Lebens ist in Episoden geschrieben. Die Kunst besteht wahrscheinlich darin, dass man den Mut zum Abschluss und die Geduld für einen neuen Anfang aufbringt.



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