Was ich lese

Samstag, 10. August 2013

Victor Hugo - "Les Misérables"


"Gott kann dem Glück derer, die lieben,nur noch eines hinzufügen - Ewigkeit. Nach einem Leben der Liebe eine Ewigkeit der Liebe, dies bedeutet in der Tat noch eine Steigerung. Aber es ist unmöglich, das Glück selbst zu steigern, das die Liebe uns auf dieser Welt vermittelt - selbst Gott kann das nicht. Es ist die Fülle des Himmels, aber die Liebe ist die Fülle des Menschlichen."
(Marius in einem Brief an Cosette)

Donnerstag, 28. März 2013

Auf der Suche nach Allen Ginsbergs "Das Geheul" - und andere Gedichte


Geduld ist nicht gerade meine höchste Tugend, wenn ich etwas will. Seit ich den Film „Howl - Das Geheul“ im Fernsehen sah, bin ich auf einen Gedichtband von Allen Ginsberg scharf, der auch das berühmte Gedicht „Das Geheul“ beinhalten sollte. Zuerst schaute ich bei Amazon. Da fand ich nur zwei Angebote. Beide lagen bei knapp 70 Euro! Alle anderen deutschen oder zweisprachigen Ausgaben waren vergriffen.
Auch eine Internet-Recherche brachte nichts. Okay, dachte ich, beiße ich in den sauren Apfel und bestelle eine der beiden Ausgaben. Bei dem Preis dachte ich an einen dicken Wälzer mit den gesammelten Werken. Wie überrascht war ich, als ich ein leichtes Päckchen erhielt ... Inhalt ein Taschenbüchlein – eine Ausgabe von 2004, die damals 8,90 Euro kostete! Ich griff zum Telefon und rief den Anbieter an, ein Buchantiquariat. Eine sympathische Frauenstimme meldete sich am anderen Ende und erklärte mir, dass diese Ausgabe deswegen so teuer sei, - weil ganz selten noch zu haben. Ich konnte das Zustandekommen des horrenden Preises trotzdem nicht nachvollziehen. Wir einigten uns darauf, dass ich das Taschenbuch zurücksende und im Gegenzuge den Kaufpreis rückerstattet bekomme. So weit so gut. Neugierig geworden, was es mit der Seltenheit von Ginsbergs Werken in deutscher Übersetzung auf sich hat, fragte ich an meinem Wohnort im Buchhandel nach. Tatsächlich ist zur Zeit alles vergriffen, insbesondere auch die Ausgabe, die ich bei Amazon bestellt hatte. Die Verkäuferin wolle aber selbst recherchieren, sagte sie.
Nun erhielt ich gestern ihren Anruf, dass ihre antiquarische Suche negativ ausfiel. Ich muss also auf eine Neuauflage warten oder selbst ein paar Antiquariate abgrasen.
Man muss sich mal vorstellen: dieser kleine Gedichtband wird bei Amazon zum fast 8fachen Kaufpreis angeboten! Dabei ist das Büchlein gerade mal 9 Jahre alt. Bei aller Liebe zur Literatur, da gedulde ich mich dann lieber noch ein Weilchen. Ich will das Buch zum Lesen und nicht für die Vitrine.

Dienstag, 12. Februar 2013

Den Göttern kommt das große Kotzen


Ein paar Auszüge aus "Den Göttern kommt das große Kotzen". Man könnte Charles Bukowskis Tagebuch auch als eine Art Blog ansehen. Immerhin schrieb der alte Tastenhauer Anfang der Neunziger schon auf dem Computer, während ich noch zehn Jahre brauchte.


(aus 28. August 91)
… All diese Menschen. Was machen sie? Was denken sie? Wir müssen alle mal sterben. Was für ein Zirkus. Das allein müsste schon dafür sorgen, dass wir einander lieben. Tut es aber nicht. Wir werden terrorisiert und geplättet von nebensächlichem Kram; wir werden aufgefressen von nichts und wieder nichts.


(aus 12. September 91)
… Tod ist so wenig ein Grund zu Trauer wie der Umstand, dass Blumen wachsen. Schlimm ist nicht der Tod, sondern das Leben, das bis dahin gelebt wird bzw. nicht gelebt wurde. Menschen, die ihr eigenes Leben nicht würdigen, sondern darauf pissen. Es mit Scheißkram verplempern. Dumme Rammler, voll konzentriert auf Ficken, Kino, Geld, Familie, Ficken. Ein Hirn voll Flusen. Sie schlucken die Vorstellung von Gott und Vaterland ohne einen Gedanken. Bald verlernen sie das Denken ganz und lassen andere für sie denken. Ihre Hirnwindungen sind mit Baumwolle ausgestopft. … Der Tod der meisten Menschen ist nichts als leerer Schein: es ist nichts mehr da, was noch sterben kann.


(aus 13. September 91)
… Im Grunde schreibe ich genau wie vor fünfzig Jahren. Bin vielleicht ein bisschen besser geworden, aber nicht viel. Warum musste ich einundfünfzig werden, ehe ich das Geld für die Miete mit der Schreibmaschine verdienen konnte? Ich meine, wenn ich recht habe und meine Schreibe sich nicht verändert hat, warum diese Durststrecke? Musste ich warten, bis die Welt mit mir Schritt halten kann? Und falls sie es getan hat, wo steh ich jetzt? In den Nesseln, würde ich sagen. Ich hatte Glück, aber ich glaube nicht, dass es mich überheblich gemacht hat. Ist ein eingebildeter Fatzke sich je bewusst, dass er einer ist?


(aus 24. September 91)
… Linda ist ausgegangen. Sie braucht Abwechslung; Leute mit denen sie sich unterhalten kann. Nichts dagegen; nur trinkt sie gerne was, und anschließend muss sie noch nach Hause fahren. Ich leiste ihr keine gute Gesellschaft, und Unterhaltungen sind nicht mein Ding. Ich will keinen Austausch von Ideen und schon gar nicht von Gefühlen. Ich bin ein Steinquader und mir selbst genug; und als solcher will ich meine Ruhe. So ist es von Anfang an gewesen. Ich wehrte mich gegen meine Eltern, dann gegen die Schule, und dann wehrte ich mich dagegen, ein ordentlicher Bürger zu werden. Egal, was ich in mir habe, es war von Anfang an da. Daran sollte niemand drehen. Damals nicht und heute auch nicht.


(aus 26. September 91)
… Manche werden sagen, das ganze Leben sei eine Falle. Man kann auch dem Schreiben in die Falle gehen. Wenn man schreibt, was Lesern schon immer gefallen hat, wird man überflüssig. Bei den meisten reicht die Kreativität nicht lange. Sie hören den Beifall und lassen sich davon benebeln. Ob das Geschriebene etwas wert ist, kann am Ende nur der Autor beurteilen. Wenn er auf Kritiker, Lektoren, Verleger und Leser hört, hat er verspielt. Und wenn er vor lauter Ruhm und Fortüne in Verzückung gerät, kann man ihn gleich im Abwasserkanal entsorgen.


Tja, das ist Buk, wie ich ihn kenne und schon lange nicht mehr las. Kann gar nicht sagen, welches das letzte Buch war, das ich von ihm las. Wahrscheinlich irgendein Gedichtband. Es macht mal wieder Spaß, seinen Gedanken und Stimmungen zu folgen. Und man merkt auch bei diesen Tagebuchaufzeichnungen, dass es ihm Spaß machte, sein Zeug zu schreiben. Es hielt ihn über Wasser in der verrückten Welt und diesem Leben. Er schrieb ungeschminkt darüber, und das mochte ich schon immer besonders an ihm. Ich muss gar nicht mit allem einverstanden sein, was er da von sich gab. Es reichen ein oder zwei Sätze, die er raus haute, und die mich mit- oder umreißen, weil ich denke: Fuck, genau so ist es! Außerdem mag ich seine Selbstironie, seinen Humor und seine Verschrobenheit. Lange Rede, kurzer Sinn: „Den Göttern kommt das große Kotzen“ ist ein Aufheller für meinen Alltag in dieser scheiß Zeit – ich meine damit nicht nur meine persönliche scheiß Zeit sondern überhaupt die scheiß Zeit zwischen Sexismusdebatten und Papstrücktritten. Ja, und dieser Winter ist nicht mein Winter. Sowieso.
Nun, wenn Buk es schaffte, mit Einundfünfzig literarisch den Durchbruch zu schaffen, vielleicht darf ich auch noch hoffen. Jahre, die schlecht anfangen, müssen nicht unbedingt schlecht enden.
Danke Buk!

Samstag, 9. Februar 2013

Herta Müller, "Niederungen"


Ein blendend heller Tag. Über Nacht hat es geschneit, und nun reflektiert der Schnee das Sonnenlicht. Ja, die Sonne scheint. Knapp überm Berg. Ich sehe jedenfalls große Flächen blauen Himmels. Und ein Wirrwarr weißer Zweige und Äste. So stelle ich mir das in meinem Kopf vor. Ein Neuronenwald. Man trifft überall in der Natur auf ähnliche Strukturen. Die fraktale Welt.
Vielleicht springt in meinem Kopf auch ein Eichhörnchen von Ast zu Ast, und das wäre ICH mit meinen Gedanken und Emotionen. Mal flink, mal behäbig, mal gar nicht.
Heute geht es so. Die Erkältung kotzt mich an. Niese und huste nach wie vor gelben Schleim ab. Rieche fast nichts. Bei der Arbeit im Altenheim kein Fehler. Aber noch habe ich zwei Tage zum Auskurieren des Katarrhs.
Viel geschafft habe ich nicht in den Tagen zuhause – von wegen Wohnung putzen. Wenigstens das Bad.
Und! Endlich las ich "Niederungen" von Herta Müller zu ende. Nicht dass ich Herta Müllers Schreibe nicht mag. Im Gegenteil. Sie schreibt ungeheuer eindrücklich. Was es halt schwer macht. Obwohl man sich sicher besser einlesen könnte als ich. Wäre man nicht so ein fauler Sack.
Die „Niederungen“ sind ein intensiver Lesestoff. Sprachlich ungeheuer dicht. Detailliert bis zur Überspitzung schildert Herta Müller episodisch / szenisch das Dorfleben (der deutschen Banatschwaben im kommunistischen Rumänien) während ihrer Kindheit und Jugend. Die düstere und muffige Atmosphäre klettert förmlich aus den Zeilen heraus. Die Sprachbilder expressionistisch verzerrt, so dass sie einen kitzeln und zwicken, was für mich den hauptsächlichen Lesereiz ausmachte.


Lesebeispiel 1 (Niederungen):

Der Kater kommt, wälzt die tote Maus mal auf den Rücken, mal auf den Bauch, bis sie sich nicht mehr regt.
Gelangweilt beißt der Kater den Kopf ab. Es knirscht in seinem Gebiss. Manchmal sieht man beim Kauen seine Zähne. Knatschend geht er davon. Der Bauch der Maus bleibt liegen, grau und weich wie Schlaf.
Er ist satt, sagt Mutter. Es ist die vierte, die ich ihm heute gefangen hab. Er selbst fängt sich ja keine. Da laufen sie ihm zwischen den Pfoten herum, und er schläft.
Körbe werden mit Mais gefüllt. Der Speicher wird immer größer. Wenn er ganz leer ist, wird er am größten sein.
Die Maiskolben rollen mir wie von selbst in die Hände und fallen wie von selbst in den Korb.
Die Handfläche schmerzt nur, wenn sie leer ist. Wenn der Mais daran reibt, fühl ich den Schmerz nicht mehr, er ist so stark, dass er sich selber tötet. Es kribbelt, und dann gibt es die Hand mit der Handwurzel und den Fingern nicht mehr.
Ich nehme die Kolben von unten. Ich baue einen Gang für die Flucht der Mäuse. Ich habe dabei einen dicken Knoten Angst in der Kehle stecken, einen dicken Knoten Atem.
Zwei Mäuse klettern an der Lattenwand hoch. Mutter teilt zwei Hiebe aus, und sie fallen herab.
Der Kater beißt zwei Köpfe ab. Seine Zähne knirschen.



Lesebeispiel 2 (Dorfchronik):

Die Häuser haben in zwei Teile geteilte Höfe, die im Dorf Vorderhöfe und Hinterhöfe genannt werden. In den Vorderhöfen, unter dem haushohen Weintraubenspalier und zwischen den gestutzten Samtrosensträuchern, stehen die bunten Gartenzwerge und die großen grünen Laubfrösche, die im Dorf Gartenfrösche genannt werden. Im Hinterhof sind das Geflügel und die dunklen dampfenden Räumlichkeiten, in denen gekocht, gegessen, gewaschen, gebügelt und geschlafen wird, die im Dorf Sommerküche genannt werden. Die Dorfleute teilen die Woche nach dem Kochprogramm in Fleischtage und in Mehltage ein. Die Dorfleute essen gefettet, gesalzen, gepfeffert. Wenn der Dorfarzt ihnen aber das Fetten, Salzen und Pfeffern verbietet, essen sie ungesfettet, ungesalzen und ungepfeffert und sagen während des Essens, dass nichts über die Gesundheit geht und dass das Leben nicht mehr schön ist, wenn man nicht mehr alles essen darf, und: Gutes Essen macht Sorgen vergessen.


Lesebeispiel 3 (Die Meinung):

Es war einmal ein Frosch, der hatte besonders dicke und nasse Augen. Der Frosch arbeitete in einem Betrieb. Er war Ingenieur. Er war im Betrieb sowohl bei den Chefs als auch bei den Arbeiten nicht gut angesehen. Der Frosch hatte immer und überall eine Meinung. Und das Schlimmste an dieser Meinung war, dass es eine eigene Meinung war, die immer anders als die Meinung der anderen war, die die Meinung des Chefingenieurs war, die wiederum die Meinung des Direktors war, die wiederum die Meinung des Generaldirektors war, die wiederum die Meinung des Ministers war.


(aus "Niederungen" von Herta Müller)

Freitag, 30. November 2012

Walt Whitman: Ein Gesang von der rollenden Erde - 2


Wer immer du bist! Bewegung und Licht sind eigens für dich,
Das göttliche Schiff segelt durch göttliche See für dich.
Wer immer du bist! Du bist er oder sie, für die die Erde flüssig und fest ist,
Du bist er oder sie, für die Sonne und Mond am Himmel hängt,
Denn kein anderer als du bist Gegenwart und Vergangenheit,
Denn kein anderer als du bist Unsterblichkeit.

Jeder Mann für sich selbst und jedes Weib für sich selbst ist das Wort der
Gegenwart und Vergangenheit und das wahre Wort der
Unsterblichkeit,
Keiner kann für den anderen etwas gewinnnen, - nicht einer,
Keiner kann für den anderen wachsen, - nicht einer.

Das Lied ist des Sängers und fällt auf ihn zurück,
Die Lehre ist des Lehrers und fällt auf ihn zurück,
Der Mord ist des Mörders und fällt auf ihn zurück,
Der Diebstahl ist des Diebes und fällt auf ihn zurück.
Die Liebe ist des Liebenden und fällt auf ihn zurück,
Die Gabe ist des Gebers und fällt unfehlbar auf ihn zurück,
Die Rede ist des Redners, das Spiel des Schauspielers und der
Schauspielerin und nicht für das Publikum,
Und niemand begreift Größe und Güte, als allein seine eigene
oder was er als eigene ahnt.

(Walt Whitman, Grashalme)

Freitag, 10. August 2012

"Erhörte Gebete" von Truman Capote (Wahrheit und Illusion)


...
"Wenn etwas wahr ist, so heißt das nicht, dass es überzeugend ist, weder im Leben noch in der Kunst. Denk an Proust. Würde die Suche nach der verlorenen Zeit so wahr klingen, wie sie es tut, wenn er sich buchstabengetreu an die historischen Umstände gehalten hätte, wenn er nicht das jeweilige Geschlecht, die Ereignisse, die Namen abgewandelt hätte? Wenn er sich strikt an die Tatsachen gehalten hätte, wäre sie weniger glaubwürdig gewesen, aber" - ein Gedanke, der mir oft durch den Kopf gegangen war - "vielleicht besser. Weniger verdaulich, aber besser." Ich entschied mich doch für noch einen Drink. "Das ist die Frage: Ist die Wahrheit eine Illusion, oder ist die Illusion Wahrheit, oder sind sie im Grunde ein und dasselbe? Ich meinerseits, mir ist völlig egal, was jemand über mich sagt, solange es nicht wahr ist."
"Vielleicht solltest du diesen zweiten Drink weglassen."
"Findest du, ich bin betrunken?"
"Nun ja, du schwafelst."
"Ich bin entspannt, weiter nichts."
Woodrow sagte freundlich: "Du hast also wieder angefangen zu schreiben. Einen Roman?"
"Einen Bericht. Ich lege Rechenschaft ab. Ja, ich werde es einen Roman nennen. Falls ich es jeh zu Ende bringe. Natürlich bringe ich nie irgendetwas zu Ende."
"Hast du schon einen Titel?" Oh, Woodrow traf genau ins Schwarze mit seinen Cocktailparty-Fragen.
"Erhörte Gebete"
Woodrow runzelte die Stirn. "Das habe ich doch schon mal gehört."
"Nur, falls du einer von den dreihundert Dusseln warst, die mein erstes und einziges gedrucktes Werk gekauft haben. Das hieß auch Erhörte Gebete. Aus keinem besonderen Grund. Aber diesmal habe ich einen Grund."
"Erhörte Gebete. Ein Zitat, nehme ich an."
"Von der heiligen Theresia. Ich habe es selbst nie nachgeschlagen, also weiß ich nicht genau, was sie gesagt hat, aber es war so etwas wie: Es werden mehr Tränen über erhörte Gebete vergossen als über nicht erhörte."
Woodrow sagte: "Mir geht ein Lichtlein auf. Dieses Buch ist über Kate McCloud plus Clique."
"Ich würde nicht sagen, dass es über sie ist - obwohl sie und andere darin vorkommen."
"Worüber ist es dann?"
"Über Wahrheit als Illusion."
"Und über Illusion als Wahrheit?"
"Ersteres. Das Zweite ist ein anderes Projekt."
Woodrow wollte wissen, wieso, aber der Whisky tat seine Wirkung, und ich fühlte mich zu taub, um es ihm zu sagen; doch was ich gesagt hätte, war: Da es Wahrheit nicht gibt, kann sie niemals etwas anderes sein als Illusion - aber Illusion, das Nebenprodukt enthüllender Kunstfertigkeit, kann die Bergkuppen erreichen, die dem unerreichbaren Gipfel der vollkommenen Wahrheit am nächsten kommen. Zum Beispiel Damenimitatoren. Der Imitator ist in der Tat ein Mann (Wahrheit), bis er sich als Frau neu erschafft (Illusion) - und von diesen beiden ist die Illusion die wahrere.

(aus "Erhörte Gebete" von Truman Capote)

Dienstag, 7. August 2012

Aus "Erhörte Gebete" von Truman Capote (Erwachsensein)


Colettes bemalte Augenlider hoben und senkten sich wie die langsam schlagenden Flügel eines großen blauen Adlers. „Aber das“, sagte sie, „ist ja das Einzige, was niemand von uns je sein kann: ein erwachsener Mensch. Falls Sie einen Geist meinen, nur gehüllt in Sack und Asche der Weisheit? Frei von allem Bösen – Neid und Bosheit und Habgier und Schuld? Unmöglich. Voltaire, sogar Voltaire lebte mit einem Kind im Innern, eifersüchtig und zornig, ein schmutziger kleiner Junge, der ständig an seinen Fingern roch. Voltaire trug dieses Kind mit sich herum bis ins Grab, wie wir alle es tun werden. Der Papst auf seinem Balkon … der von einem hübschen Gesicht in der Schweizer Garde träumt. Und der britische Richter mit vornehmer Perücke, woran denkt er, während er einen Mann an den Galgen bringt? An Gerechtigkeit und Ewigkeit und reife Dinge? Oder überlegt er womöglich, wie er es schaffen kann, in den Jockey Club aufgenommen zu werden? Natürlich haben Menschen erwachsene Augenblicke, einige wenige edle Momente, hier und da verstreut, und der wichtigste davon ist natürlich der Tod. Denn der Tod verjagt endlich diesen schmutzigen kleinen Jungen und macht das, was von uns übrig ist, einfach zu einem Gegenstand, leblos, aber rein, so wie die weiße Rose. Hier“ - sie hielt mir die Blumenkugel hin -, „stecken Sie das in die Tasche. Es soll Sie immer daran erinnern, dauerhaft vollkommen, mithin erwachsen zu sein, das bedeutet, ein Gegenstand zu sein, ein Altar, eine Gestalt in einem Kirchenfenster: in Ehren gehaltenes Zeug. Da ist es doch viel besser, zu niesen und menschliche Gefühle zu haben.“

(„Erhörte Gebete“ von Truman Capote)

Montag, 30. Juli 2012

Herta Müller über den "Fremden Blick"


(nachdem sie bemerkte, dass sie bis in ihre Wohnung vom rumänischen Geheimdienst "Securitate" ausspioniert wurde)

"In diesem Alltag ist der Fremde Blick entstanden. Allmählich, still, gnadenlos in den vertrauten Straßen, Wänden und Gegenständen. Die wichtigen Schatten streifen herum und besetzen. Und man folgt ihnen mit einem Sensorium, das immerzu flackert und einen von innen verbrennt. So ungefähr sieht das dumme Wort Verfolgung aus. Und dies ist der Grund, weshalb ich es beim FREMDEN BLICK, wie man mir ihn in Deutschland bescheinigt, nicht belassen kann. Der Fremde Blick ist alt, fertig mitgebracht aus dem Bekannten. Er hat mit dem Einwandern nach Deutschland nichts zu tun. Fremd ist für mich nicht das Gegenteil von bekannt, sondern das Gegenteil von vertraut. Unbekanntes muß nicht fremd sein, aber Bekanntes kann fremd werden."

(aus "Der Fremde Blick" in der Essay-Sammlung "Der König verneigt sich und tötet" von Herta Müller)

Dienstag, 3. Juli 2012

Herta Müller über das Schreiben


… Das Gelebte als Vorgang pfeift aufs Schreiben, ist mit Worten nicht kompatibel. Wirklich Geschehenes lässt sich niemals eins zu eins mit Worten fangen. Um es zu beschreiben, muss es auf Worte zugeschnitten und gänzlich neu erfunden werden. Vergrößern, verkleinern, vereinfachen, verkomplizieren, erwähnen, übergehen – eine Taktik, die ihre eigenen Wege und das Gelebte nur noch zum Vorwand hat. Man schleppt das Gelebte beim Schreiben in ein anderes Metier. Man probiert, welches Wort, was vermag. Es ist nicht mehr Tag oder Nacht, Dorf oder Stadt, sondern es herrschen Substantiv und Verb, Haupt- und Nebensatz, Takt und Klang, Zeile und Rhythmus. Das wirklich Geschehene insistiert als Randerscheinung, man verpasst ihm durch Worte einen Schock nach dem anderen. Wenn es sich selber nicht mehr erkennt, steht es wieder in der Mitte. Man muss das Wichtigtuerische des Erlebten demolieren, um darüber zu schreiben, aus jeder wirklichen Straße abbiegen in eine erfundene, weil nur die ihr wieder ähneln kann.

Das Schreiben macht aus dem Gelebten Sätze, aber nie ein Gespräch. Die Tatsachen hätten, als sie geschahen, die Wörter, mit denen man sie später aufschreibt, gar nicht ertragen. Mir kommt das Schreiben immer als Gratwanderung vor zwischen dem Preisgeben und Geheimhalten. Aber auch dazwischen changiert es, im Preisgeben biegt sich das Wirkliche ins Erfundene, und im Erfundenen schimmert das Wirkliche durch, gerade weil es nicht formuliert ist. Die Hälfte von dem, was der Satz beim Lesen verursacht, ist nicht formuliert. Diese nicht formulierte Hälfte macht den Irrlauf im Kopf möglich, sie öffnet den poetischen Schock, den man als Denken ohne Worte gelten lassen muss. Oder sagt man dazu: Gefühl.


(Aus dem Essay „Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm – wenn wir reden, werden wir lächerlich“ von Herta Müller)

Montag, 7. Mai 2012

Wer einmal aus dem Blechnapf frißt (359)


Er dreht sich um nach ihr. Er geht einen Schritt auf sie zu. Und plötzlich umfaßt er sie. O Gott, es ist ja die Frau, die Frau, die Frau nach der ich seit Jahren mich gesehnt, es ist das vermißte Glück, die ewig ausgebliebene Erfüllung ... Frau, Weib, Brust ... es ist das Glück, es ist das Glück, es ist das große, große Glück ... Müde zurück ins Zimmer, ins einsame Bett ...
Und er fällt hinab auf sie mit dem Sturm all seiner Küsse. Er betäubt sie mit dem Sturzbach seiner Berührungen, er ist hier, da, dort. Er stammelt Worte dazwischen, abgerissene, sinnlose Worte. "O du, dass ich dich wiederhabe ... ach, du bist mein ... wie ich dich liebhabe ...!"

(aus "Wer einmal aus dem Blechnapf frißt" von Hans Fallada)

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