Herta Müller über das Schreiben


… Das Gelebte als Vorgang pfeift aufs Schreiben, ist mit Worten nicht kompatibel. Wirklich Geschehenes lässt sich niemals eins zu eins mit Worten fangen. Um es zu beschreiben, muss es auf Worte zugeschnitten und gänzlich neu erfunden werden. Vergrößern, verkleinern, vereinfachen, verkomplizieren, erwähnen, übergehen – eine Taktik, die ihre eigenen Wege und das Gelebte nur noch zum Vorwand hat. Man schleppt das Gelebte beim Schreiben in ein anderes Metier. Man probiert, welches Wort, was vermag. Es ist nicht mehr Tag oder Nacht, Dorf oder Stadt, sondern es herrschen Substantiv und Verb, Haupt- und Nebensatz, Takt und Klang, Zeile und Rhythmus. Das wirklich Geschehene insistiert als Randerscheinung, man verpasst ihm durch Worte einen Schock nach dem anderen. Wenn es sich selber nicht mehr erkennt, steht es wieder in der Mitte. Man muss das Wichtigtuerische des Erlebten demolieren, um darüber zu schreiben, aus jeder wirklichen Straße abbiegen in eine erfundene, weil nur die ihr wieder ähneln kann.

Das Schreiben macht aus dem Gelebten Sätze, aber nie ein Gespräch. Die Tatsachen hätten, als sie geschahen, die Wörter, mit denen man sie später aufschreibt, gar nicht ertragen. Mir kommt das Schreiben immer als Gratwanderung vor zwischen dem Preisgeben und Geheimhalten. Aber auch dazwischen changiert es, im Preisgeben biegt sich das Wirkliche ins Erfundene, und im Erfundenen schimmert das Wirkliche durch, gerade weil es nicht formuliert ist. Die Hälfte von dem, was der Satz beim Lesen verursacht, ist nicht formuliert. Diese nicht formulierte Hälfte macht den Irrlauf im Kopf möglich, sie öffnet den poetischen Schock, den man als Denken ohne Worte gelten lassen muss. Oder sagt man dazu: Gefühl.


(Aus dem Essay „Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm – wenn wir reden, werden wir lächerlich“ von Herta Müller)

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