Zug durch die Jahre


Zug durch die Jahre



Derweil in meine Studien vertieft,
ein alter Mensch tritt ins Abteil.
Er sitzt gebückt in Grau mir gegenüber,
draußen flitzen Landschaften vorüber.

Der Blick des alten Menschen ruht
in sich gekehrt,
verlegen breche ich das Schweigen
und frage, wohin er fährt.
Er schaut auf und sagt:
„Nicht weit, nicht weit.
Ich war auf der Suche
nach dem Motor der Zeit;
ich wanderte das ganze Leben,
wollte die Lokomotive finden,
die uns durch die Jahre zieht.
Hier bin ich – alt und müde
und habe es aufgegeben.“

Nach diesen Worten lächelt der
alte Mensch.
Kalenderblätter schweben über Wiesen,
ein neues Jahr, ein Herzenswunsch,
ein neues Leben
steigt ein, steigt aus.


(1985/86)





28 Jahre später sitze ich am Silvestertag im Licht der Schreibtischlampe. Ich warte auf meinen Nachtdienst. Es bleiben mir noch zwei Stunden, bis mein Bus fährt.
Als ich heute Morgen von der Arbeit kam, dachte ich, wie unwirklich und seltsam das Leben mir nach wie vor erscheint. „Absurd, absurd – ist mein Gefühl“ beginnt eines meiner ersten Gedichte, das ich ein Gedicht nennen will. Es trägt den Titel "Der fragende Mensch" ( v. 1981).
Ich war immer auf der Suche. Ich konnte das Fragen nie lassen. Nirgends gab es ein geistiges Zuhause für mich – außer meinem eigenen, selbst erdachten. Ich streunte durch das Leben ohne Ziel und Sinn. Immerhin fand ich eine Arbeit, mit der ich über die Jahre hinweg meinen Lebensunterhalt verdienen konnte. Aber ansonsten kam ich nirgends an; und es ist unsicher, ob ich jemals irgendwo ankommen werde. Am Ende steht der alte Mensch, der ins Zugabteil tritt und sein Suchen aufgab.
...
Noch nicht. Die Lokomotive steht noch unter Dampf.
Ich weiß nicht, wohin die Reise geht. Weiter durch die Jahre.
Der Tod meiner Eltern überschattete dieses Jahr, 2013. Es ist wirklich und unwirklich zugleich. Ich finde keine Worte.
Dass heute Silvester ist, kümmert mich wenig. Die Arbeit im Altenheim ist dieselbe wie jede Nacht. Ich verstehe die Menschen nicht, die um Mitternacht Feuerwerke anzünden. Ich verstehe weder das Leben noch die Gesellschaft. Ich bin bei den Alten, die alles ebenso wenig verstehen, oder denen es inzwischen egal ist, wenn die Jahreszahlen wechseln. Die Zeitmaschine, in der wir alle sitzen, spuckt uns nach und nach aus. Einen nach dem anderen. Manchmal auch überraschend.
2013, 2014, 2015, 2016 … Vergangenheit und Zukunft wachsen unaufhörlich zusammen. Wir sind eingeschweißt in dieses Raumzeitgewebe. Der Zug durch die Jahre ist ein elend langer Reißverschluss, der das Morgen und das Gestern zusammenfügt.
Nein, ich bin nicht trübsinnig, nur etwas müde manchmal. Entschuldigt, ich möchte eure Feierlaune nicht stören.

Bleibt gesund und frohgemut. Allen einen guten Rutsch!

diefrogg - 01. Jan. 14, 12:28

Ihnen...

Hals- und Beinbruch (in diesem Sinne. Eine Art Ankommen zu wünschen ist vielleicht vermessen. Aber vielleicht mal eine erholsame Einkehr?

bonanzaMARGOT - 01. Jan. 14, 16:18

danke, das ist nett.
"erholsame einkehr" - da muss ich jetzt erstmal grübeln.

ihnen auch alles gute!
Pendlerin - 01. Jan. 14, 13:21

Ich wünsche dir einen guten Start in das neue Jahr, Gesundheit und glückliche Momente.

bonanzaMARGOT - 01. Jan. 14, 16:20

gute wünsche kann man immer gebrauchen. danke.

dir alles gute und viel glück bei deinen vorhaben!
Pendlerin - 01. Jan. 14, 16:32

Danke. Hast du dir für 2014 was vorgenommen?
bonanzaMARGOT - 01. Jan. 14, 16:45

ich nehme mir speziell fürs nächste jahr nie etwas vor. für mich existiert silvester im prinzip gar nicht.
ansonsten nehme ich mir vor, im großen und ganzen der zu bleiben, der ich bin.
Pendlerin - 01. Jan. 14, 18:28

Findest du es schlimm, etwas an dir oder deinem Leben zu verändern? Sich nicht zu verändern, bedeutet doch eigentlich Stillstand. Mit jedem Jahr, was man älter wird, verändert man sich. Manche Ansichten oder Lebenseinstellungen verändern sich womöglich. Irgendwann kannst du vll aus gesundheitlichen Gründen, kein Fahrrad mehr fahren. Dann erfährt dein Leben doch auch eine Veränderung.
Mit vornehmen meinte ich jetzt zum Beispiel eine Urlaubsreise planen.
bonanzaMARGOT - 01. Jan. 14, 18:56

Ich plante mein Leben bisher nur kurz- bis mittelfristig im Voraus.
Das Leben gibt viele Veränderungen vor, aber ich glaube, dass die Grundeinstellungen im Wesentlichen gleich bleiben.

Nein, ich habe für 2014 noch keinen Urlaub geplant.
Lange-Weile - 01. Jan. 14, 18:10

meinen Respekt

Hallo Bo,.

wenn das Gesicht aus deiner Feder stammt, dann hast du meinen Respekt. Die Geschichte des alten Mannes in wenige Worte gefasst ist schlüssig und hat scheinbar kein gutes Ende, er hat aufgeben. Aber wie in der Wissenschaft kein Ergebnis auch ein Ergebnis ist, ist in meinen Augen auch bei diesem alten Mann ein Ergebnis, er hat den Motor der (seiner) Zeit nicht gefunden hat Ein Ansatz, um neu zu hinterfragen.
Vielleicht hat er den Motor seiner Zeit übersehen oder nicht erkannt ?

Ich wurde gestern Nacht auch von Böllern und Knaller umzingelt und im Abseits des Geschehens fragte ich mich auch, was soll das? warum wird so viel Geld in die Luft geschossen? Vor Jahren noch gab ich auch mein letztes Geld für Silvesteraketen aus, wollte es am letzten und am ersten Tag des Jahres im wahrsten Sinne des Wortes richtig krachen lassen. Und zu Silvester lassen es viele Menschen auf der ganzen Welt es richtig krachen. So werden 2 Fliegen mit einer Klappe geschlagen, das alte Jahr wird verabschiedet und das neue begrüßt.

Mit Feuerwerk wird das Ende und der neue Anfang der Zeit deutlich gemacht. Silvester ist symbolisch die Nahtstelle zwischen Vergangenheit und Zukunft ;-)

Ich wünsche dir ein gesundes neues Jahr 2014 ;-) es kann nur besser als das vergangene Jahr werden.

LG LaWe


bonanzaMARGOT - 01. Jan. 14, 20:38

schön, dass dir mein gedicht "zug durch die jahre" gefällt, lawe.
ich entdeckte es im nachlass meiner eltern wieder. meine mutter hatte einige alten gedichte von mir aufbewahrt.

mit silveser habe ich schon lange nichts mehr am hut.
jedem tierchen sein pläsierchen . mehr fällt mir dazu nicht ein.

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