Aus "Die Pflicht und die Pflichten" v. Miguel de Unamuno
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Gibt es denn etwas Schrecklicheres als eine Idee? Der Leser hat wahrscheinlich noch nie darüber nachgedacht, was es bedeutet, wenn man von einem sagt, eine Idee habe sich ihm in den Kopf gesetzt. Was in der Mehrzahl der Fälle nichts anderes bedeutet, als den Kopf in eine Idee zu versetzen. Und ein Mensch, der darauf verfällt, einer dieser Ideenmenschen, ist schrecklich. Das sind die Menschen des wildesten, des kalten Fanatismus. Der wiederum ist der disziplinierte und gehorsame Fanatismus.
Denn es gibt tatsächlich das, was wir kalte Leidenschaft nennen könnten. Ja sogar eiskalte. Und eine dieser kalten Leidenschaften ist die der großgeschriebenen PFLICHT.
Gott möge uns dagegen unreine, unphilosophische, sentimentale, anekdotische und nicht kategorische Menschen geben, mit denen wir Umgang haben können, mitleidige und nicht gerechte, Träumer, Sorglose, wenn man will, wenig bis gar nicht diszipliniert im absurden militärischen Sinn der Disziplin, aber wirklich diszipliniert im anderen Sinn, im Sinne der Disziplin des „discipulus“*, des Jüngers, der von Herzen und aus eigenem Antrieb die Meisterschaft – des Meisters – fühlt, denn die wahre Disziplin oder „discipulina“** erfordert Meisterschaft und nicht Autorität. Gott möge uns Menschen mit einem feinen Gespür für ihre Pflichten, jedoch keinerlei Verständnis für die großgeschriebene PFLICHT schenken. Und aus der Philosophielosigkeit dieser Menschen und der Unreinheit ihrer Seelen wird eine lebendigere Philosophie entstehen, eine Philosophie, die keinen Platz hat in Systemen logischer Begriffe.
(Miguel de Unamuno)
* discipulus - auch Schüler, Lehrling
** discipulina - Unterricht, Lehre
bonanzaMARGOT
- 08. Dez. 13, 17:37
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