Warum


Die Zeit ist schneller als der Wind. Wir fliegen mit ihr durchs Weltall. Mit Geheul. Die Erinnerung ist ein Nebel, aus dem sich die Welt und die Figuren schälen. Gespenstern gleich. Die Zeit nimmt uns alles. Bis wir selbst Gespenster sind. Nur sichtbar für die, die es noch nicht sind.
Ich helfe einer Kollegin, die alte Frau zu waschen, weil ich noch Zeit habe, bis mein Bus fährt. Meine Kollegin ist eine fleißige Arbeiterin. Wir sind vollkommen unterschiedlich, und trotzdem mögen und achten wir uns. Die Bewohnerin, die wir waschen, hustet zähen Schleim ab. Sie liegt schon seit Jahren wie eine dicke Heuschrecke im Bett und wird künstlich ernährt. Kein Wort kommt mehr über ihre Lippen. Sie hustet und ächzt. Manchmal zuckt sie unwillkürlich und verdreht die Augen, als hätte sie einen Stromschlag bekommen. Der Sabber läuft aus ihrem Mundwinkel und schäumt. Sie würgt. Meine Kollegin cremt sie von Kopf bis Fuß ein wie ein Baby.
Wir ziehen ihr ein neues Nachthemd an, lagern sie, und ich schließe sie wieder an die Ernährungspumpe an. Die Pumpe surrt monoton.
Ich schaue auf die Uhr. Mein Bus kommt in wenigen Minuten. Sonntags hat er andere Fahrzeiten. Ich verabschiede mich von meiner fleißigen Kollegin. Sie bedankt sich für meine Hilfe. Wir kennen uns schon lange und kennen uns nicht.
Es ist noch dunkel. Die Straßen menschenleer. Die Menschen schlafen sich aus. Sie träumen. Ich stehe an der Bushaltestelle und blicke zum Himmel. Die Erde fliegt mit uns durchs Weltall. Wir merken es gar nicht. Es ist still. Ganz still. Ab und zu ein Auto.
Ich glaube, ich spüre etwas ... wie Liebe.

Pendlerin - 01. Dez. 13, 19:53

Der Text gefällt mir. Ich wünsche dir einen guten Start in die neue Woche.

bonanzaMARGOT - 02. Dez. 13, 14:46

danke, dir auch einen guten wochenanfang.
Lange-Weile - 03. Dez. 13, 13:32

Linear und Krümmung

Hallo Bo.,

ein echt schöner Text...deine Beschreibung der fliegenden Zeit und der Stillstand der fliegenden Zeit für die Frau, die nur über Ernährungschlauch mit dem Leben verbunden ist. Ein Leben, dass sie wahrscheinlich nicht mal mehr wahrnehmen kann. Wahrscheinlich ist ihre Seele schon zu dem Engeln aufgestiegen und dieser schaut ab und zu mal, wie es ihrer Körperhülle geht. (der scheinbare Stromschlag)

In solchen Fällen ist die Technik, an der der Körper hängt, eher ein Fluch als ein Segen.

Vor kurzen las ich eine interessante Sichtweise auf die Zeit, in der man davon ausgeht, dass sie sich linear noch vorn bewegt - Sekunde für Sekunde. Ein physikalisches Gesetz besagt, dass eine Linie, die wir grade unendlich lang zeichnen - Punkt für Punkt - , sich in Wahrheit krümmt und die Krümmung irgendwann wieder auf den Anfangspunkt zurück kommt. Die exakt grade Line existiert nur in unserem Kopf, weil wir als Menschen nicht so weit sehen könne , so dass wir die Krümmung erkennen würden.

Die lineare Zeit kann sich ähnlich verhalten ? Vielleicht mündet sie wieder in der Eiszeit oder dem Urknall? ;-))

Was den Menschen betrifft,wie du die Frau beschreibst, ist er wieder in dem "Bauch" angekommen...nur das es die Mutter nicht mehr gibt..sondern ihr als Pfleger diese Aufgabe übernehmt und die Nabelschnur, die im Bauch der Mutter für Ernährung sorgt, ist der Ernährungschlauch, der sie am Leben hält.

Das Leben kann echt komisch sein ;-)

LG LaWe


bonanzaMARGOT - 03. Dez. 13, 15:35

danke lawe

die zeit ist ein phänomen, das nicht außerhalb von uns stattfindet. sie ist in uns. sie ist in allen dingen, und jedes ding hat seine eigene zeit.
natürlich läuft meine zeit nicht schnelller oder langsamer als deine. aber der blick auf die zeit ist ein anderer, und er ist nicht nur zwischen personen unterschiedlich, er ändert sich auch innerhalb eines menschenlebens.
ohne die dinge kann es keine zeit geben - das glaube ich. und ohne die zeit gäbe es keine dinge bzw. keine welt.
das pure dasein birgt in sich die zeit.
wir bewegen uns in kreisläufen. dies scheint ein maßgebliches muster in der natur und im universum zu sein. aber niemals kann etwas wieder so sein, wie es war.
wir kommen niemals wieder an den anfang zurück, aber wir geraten in zustände, die an unsere anfänge erinnern.
so werden greise und greisinnen wie kinder; und im extremfall wie bei dieser alten frau, die quasi nur noch dahinvegetiert, ergibt sich tatsächlich die parallele, die du so schön schilderst - mit der nabelschnur und bauch der mutter.
ja, das leben ist komisch - im sinne von seltsam.
Meral (Gast) - 04. Dez. 13, 00:42

Ich glaube, ich spüre etwas ... wie Liebe.

schön...

bonanzaMARGOT - 04. Dez. 13, 10:31

wir kommen den menschen, die wir täglich pflegen, sehr nahe. da entwickelt sich mit der zeit etwas ... wie liebe. nicht nur mitleid. es ist menschenliebe.

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