Überstunden
Ich blicke aus dem Bürofenster in den Innenhof und den grauen Himmel darüber. Sind das wirklich Schneeflocken? Aus einem anderen Raum schallt die Stimme einer Kollegin: „Hey Leute, schaut mal raus!“ Ich schiebe freiwillig Überstunden. Es wurde uns von der Chefin nahegelegt. Wir hinken in der Bearbeitung gewaltig hinterher, was kein Wunder bei der Flut von Meldungen ist. Im Mitarbeitergespräch vor zwei Wochen nahmen sie mich in die Zange, die Chefin und die Oberchefin.
„Wären Sie bereit, in dieser Situation an einem der Samstage Überstunden zu leisten?“
„Eigentlich bin ich mit den täglichen acht Stunden Dokumentation schon an der Grenze…“, druckste ich herum, „aber wenn`s sein muss…“
„Sie würden also nur Überstunden machen, wenn sie angeordnet werden?“ fragte die Oberchefin und hatte mich damit im Sack. Die andere Chefin betonte, wie wichtig ihnen das Attribut freiwillig dabei sei.
„Wir können Sie also auf die Liste setzen?“
„Ja“, ich lächelte gequält.
Am nächsten Tag stand ich auf der Liste, die zum Eintragen im Aufenthaltsraum bereitlag. Statt nur meinen Namen, las ich: „Herr Bonanza Margot erklärt sich prinzipiell bereit, Überstunden zu leisten.“
Nach vier Stunden Stammdatendokumentation und Posteingang streiche ich die Segel.
Draußen mehr Schneeregen als Schnee. Die Mittagsluft schlägt mir kalt und feucht ins Gesicht. Fluchend radele ich durch den Berliner Verkehr. Das Leben hat mich am Wickel (- erpresst und ausgepresst). Man könnte auch sagen: der ganz normale Wahnsinn. Und wozu das alles?
bonanzaMARGOT
- 10. Dez. 17, 11:07
- Büro
Ich erinnere mich an eine Begebenheit in der Firma meines Mannes. Er wurde vom Chef gebeten, eine Liste zu erstellen von den Mitarbeitern, die eine gute und die eine weniger gute Leistung erbringen. Worauf sich mein Mann weigerte, eine solche Liste anzulegen, denn er fand dieses Vorgehen unfair in bezug auf mögliche Kündigungsschritte.
tja. gute frage. wahrscheinlich lautet die antwort, dass ich ein feiger/ängstlicher arsch bin.
freilich hätte ich einfach nein sagen können, was mir aber sicher "minunspunkte" eingebracht hätte bei den chefs und auch bei der ein oder anderen kollegin.
ich war überrascht, dass du die zwickmühle nicht siehst, in der ich mich befand. rein menschlich könnte man das doch nachvollziehen, mit etwas feingefühl, oder nicht?
Wir hatten in Ö unlängst eine heiße Diskussion um Frauen in einer ähnlich gelagerten Thematik. Frauen, die sich im Job oder bei der Jobsuche sexuell belästigt fühlen und darüber schwiegen, "es über sich ergehen ließen", statt sich sofort lautstark zur Wehr zu setzen. Hier hagelte es Anfeidungen gegenüber betroffenen Frauen, sie hätten sich ja wehren können, statt "still zuzustimmen" in dieser Zwickmühle.
Einem Menschen, der in einer Zwickmühle befindet, nahe zu legen, es sei "freiwillig", diese Methodik hat System in der Arbeitswelt, in der Gesellschaft. "Funktioniert" offensichtlich immer wieder, wie wir beobachten können bzw aus eigener Erfahrung kennen. Möglicherweise ist dieses gegeneinander Ausspielen ein Facette subtiler Machtausübung. Oder Statuspiel?
von außen ist es immer leicht zu sagen, du hättest doch aufmucken können - warum hast du dir das bieten lassen? ich bin sicher, dass die meisten der menschen, die den mund so voll nehmen, in ähnlichen situationen ebenso den schwanz einziehen.
es gibt wesentlich prekärere beschäftigungsverhältnisse als das meine. die überstunden hätte ich wahrscheinlich auch ohne dieses mitarbeitergespräch (welches wir alle hatten) gemacht. mich ärgerte die vorgehensweise der chefs, und dann dieser blöde satz auf der liste... ich ärgerte mich auch über mich selbst, dass mir nicht die richtigen worte einfielen. eigentlich sollte ich selbstbewusster auftreten...
Genau das erscheint als Taktik subtiler Machtausübung: Die Überrumpelung, die sprachlos macht. Dem Gegenüber wenig oder keine Zeit einräumen, damit die Person nicht gründlich Nachdenken könne. Erst später kommt uns in den Sinn, was wir sagen hätten können oder wie wir angemessen reagieren hätten können. Die Psychoanalytikerin Rotraud Perner hat die Taktik der Überrumpelung in einem ihrer Bücher gut beschrieben.