Mittwochs-Worte

"Es wächst zusammen, was zusammengehört", sagte einst Willy Brandt beim Fall der Mauer - hört sich gut an, und seine Worte gingen in die Geschichte ein. Gilt dann nicht auch der Umkehrschluss "Es geht auseinander, was nicht zusammengehört"? Vielleicht will man das nur nicht immer wahrhaben (- notwendiger für das Leben ist, dass man sich zusammenrauft und nicht entzweit).

bonanzaMARGOT - 22. Nov. 17, 06:03

Einige Fragen dazu:

Wer bestimmt, was zusammengehört?
Wie lange gilt das Zusammengehören?
Gibt es von Natur aus eine Doktrin des Zusammengehörens?
Kann man sich dem Zusammengehören einfach entziehen?
Brauchen wir ein Zusammengehören?
Wann gehört etwas zusammen, und wie merkt man das?
Gehört nicht alles zusammen?
Wozu das ganze Hin und Her der Zugehörigkeiten auf der Welt?

fata morgana - 22. Nov. 17, 09:53

...ganz spontan fällt mir das lied von karussell bzw dirk michaelis ein "nichts ist unendlich". es ist aus dem jahr 1989... ich hatte im 'nebeltanz' mal davon geschrieben...

bonanzaMARGOT - 23. Nov. 17, 04:49

da muss ich mal die lyrics zu googeln.
bonanzaMARGOT - 23. Nov. 17, 06:33

ist`s nicht ursprünglich von den puhdys?
schöner text.
nun noch in den song hineinhören...
rosenherz - 23. Nov. 17, 12:39

"Es wächst zusammen, was zusammengehört" - Ein Satz der Intellektualität Williy Brandts, der Gefallen und Eingang in die Geschichte gefunden hat. Geht davon aus, dass es irgendwo eine mysteriöse übergeordente Stelle gäbe, die darüber bestimme, was zusammengehöre. Oder was nach Brandts Auffassung zusammengehöre, bezogen auf ein Land oder eine Staatengemeinschaft.

Ein paar hundert Jahre früher könnte der Satz für die Kolonialisierung eines Landes ge- und missbraucht werden, als Rechtfertigung.

bonanzaMARGOT - 24. Nov. 17, 05:44

die frage der nationalen/völkischen identitäten ist zeitlos. aktuell erleben wir z.b. das problem mit den katalanen in spanien.
was macht nationale identitäten aus? da steckt eine menge geschichte dahinter. die regionen entwickeln ein zugehörigkeits-bewusstsein, und dies kann bei einer steigenden unzufriedenheit mit der regierung zum unbedingten wunsch nach unabhängigkeit führen. separatismus ist en vogue. probleme lassen sich durch abspaltung selten lösen - meist werden neue geschaffen.
auch der brexit ist aktuell ein beispiel hierfür.

der imperialismus des 19. und 20. jahrhunderts war kein "zusammenwachsen, was zusammengehört". er verleibte sich mit aller macht andere länder mitsamt ihrer menschen ein. damit bildet er in vielen regionen der welt die basis und das motiv für den separatismus, siehe den auseinanderfall der sowjetunion. künstlich ausgeweitete staaten/imperien sind selten langfristig stabil.

eine mauer mitten durch eine nation ist in jedem falle unnatürlich. es brauchte nur eine passende gelegenheit wie die perestroika, um sie in deutschland zu fall zu bringen.
dass damit nicht alle gleichermaßen glücklich sind, liegt am kapitalistischen westen, welcher sich über die köpfe der menschen hinweg den osten einverleibte. es kam nicht wirklich zu einem zusammenwachsen, wie von brandt gewünscht...
rosenherz - 23. Nov. 17, 12:58

Können wir als Mensch überhaupt von einer festen Zusammengehörigkeit schreiben? Ich meine, es gibt ein Gefühl, das wir als ein "zugehörig fühlen" bezeichnen können oder wir können von einem "zugehörig sein" sprechen, wenn wir Kategorien oder Gruppen bilden. Zugehörig zu einem Staat, einer ethnischen Gruppe, einer religiösen Gemeinschaft, einer politischen Richtung, einer pädagogischen Richtung, einem medizinischen Fachbereich ect.

In der Natur gibt es Bereiche, die untrennbar als zusammengehörig erscheinen. Wurzeln, die eine Pflanze in ihrem Lebenszyklus ernähren. Ob nun in der Erde, auf Vlies oder Luftwurzeln. Oder anderes Beispiel, die Erde und das (Trink)Wasser. Ohne Wasserkreislauf und den Klimafaktoren wäre auf der Erde kein Leben möglich als Mensch, Tier oder Pflanze. Ich denke auch an den Ort und den Menschen, die untrennbar miteinander verwachsen sind. Jeder Mensch auf dieser Erde befindet sich, wie jeder Gegenstand, an irgendeinem Ort.

bonanzaMARGOT - 24. Nov. 17, 06:11

ich denke, dass das bilden von zugehörigkeiten einen natürlicher vorgang darstellt. organisches leben ist nur durch das zustandekommen und die entwicklung solcher zugehörigkeiten über (sehr) lange zeiträume möglich. eigentlich alles auf der welt ist auf synergie ausgerichtet - sonst gäbe es die dinge und phänomene nicht, die wir wahrnehmen. (wahrnehmung selbst wäre nicht möglich.)
es ist also ganz normal, dass sich zugehörigkeitsstrukturen auf allen wirkebenen herausbilden, eben auch in gesellschaften/sozietäten.

als individuum laufe ich nicht immer konform mit den zusammengehörigkeiten (und ihren ritualen), die sich in der gesellschaft um mich herum ergeben. ich kann also froh sein, wenn diese mir nicht aufgezungen werden. diese freiheit der individuellen geistigen entfaltungsmöglichkeit schätze ich sehr. sie ist alles andere als selbstverständlich. man muss nur mal aktuell zum bosporos blicken.
zusammengehörigkeiten sind schön und gut, und wahrscheinlich immanent lebensnotwendig, aber sie dürfen auf der gesellschaftsebene nicht zur doktrin werden.
wir menschen müssen heute mehr denn je über den tellerrand unserer jeweiligen zugehörigkeiten blicken, wenn wir unser überleben unter humanen bedingungen auf der erde sichern wollen.
man könnte sagen: das geschöpf menschheit benötigt ein nervensystem, welches alle organe verbindet und ein globales zusammengehörigkeitsgefühl erzeugt, um in wesentlichen zukunftsfragen einheitlich handlungsfähig zu werden.
bonanzaMARGOT - 24. Nov. 17, 07:22

beim betrachten z.b. des phänomens fussballfan denke ich, dass wir menschen eine ungeheure sehnsucht nach zugehörigkeit (über die familie hinaus) entwickeln. unsere zugehörigkeiten helfen bei der verarbeitung/verkraftung unserer existentiellen ängste - die selbstverständlichen ängste eines bewussten aber endlichen geistes. wir empfinden diese ängste mehr oder weniger diffus in uns, und nur die hingabe an einen größeren körper verschafft uns trost. daher auch der religiöse eifer des menschen.
jede außerordentliche hingabe für eine sache, eine idee oder eine zugehörigkeit ist "religion", auch der materialistische exzess.

der mensch agiert nicht als vollbewusstes, sondern nur als teilbewusstes wesen...
rosenherz - 25. Nov. 17, 09:20

"... dass wir Menschen eine ungeheure Sehnsucht nach Zuhegörigkeit (über die Familie hinaus) entwickeln." Das "wir" in diesem Satz ist mir zu hoch gegriffen. Ein Teil der Menschen mag sich zu Fussballspiel hingezogen fühlen. Aber wir, grundsätzlich als Menschen? Ich bemerke da kein Interesse, keine Sehnsucht, einer Fußballfangemeinde anzugehören oder eine Mannschaft anzufeuern.

Ich bezweifle, ob da überhaupt eine Sehnsucht nach Zugehörigkeit im Mittelpunkt steht beim Fußball. Eher scheint mir eine Lust am Messen von Stärke im (sportlichen) Wettkampf dahinter zu stecken. Eine Lust am Spiel mit Sieger und Verlierer. Auch einer Lust, den anderen Verlieren zu sehen. Projektionsfläche der eigenen inneren Kämpfe. Sich selbst in der Indentifikation mit der bevorzugten, siegreichen Fußballmannschaft als den Stärkeren hervorgehen sehen, während das Gegenüber als Verlierer vom Feld zieht.
bonanzaMARGOT - 25. Nov. 17, 09:37

"fußballfan" war nur als ein beispiel für zugehörigkeit angedacht, weil mir dieses phänomen hier im berliner alltag öfter begegnet. ich hätte als beispiel auch den schrebergartenverein oder allg. das vereinswesen nehmen können, oder eben politische, religiöse und nationale zugehörigkeiten. all diese zugehörigkeiten sind bei "uns menschen" unterschiedlich verteilt/gewichtet.
ich selbst bin kein fußballfan, aber ich denke schon, dass die fußballfans eines vereins/einer mannschaft ein zusammengehörigkeitsgefühl empfinden...
der sport (allg.) als wettkampf bietet eine gute bühne zum ausleben und teilen von emotionen und zum abschalten vom ansonsten vielleicht nicht gerade spannenden alltag. für einige stellt der verein bestimmt sowas wie eine ersatzfamilie dar - auch wenn wir (ich und du...) uns das nicht recht vorstellen können.

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