Falls du etwas sagtest, so habe ich es nicht verstanden


Morgens, bevor ich zum Praktikum aufbreche, lade ich meist das Handy am Computer, dann stecke ich es ein; seit geraumer Zeit nun ertönt kurz darauf eine geheimnisvolle weibliche Stimme aus der Manteltasche mit dem einmaligen Satz „Falls du etwas sagtest, so habe ich es nicht verstanden“. Keine Ahnung, was es damit auf sich hat, irgendwas muss dabei am Handy aktiviert werden. Der Vorgang des In-die-Tasche-Steckens kann es allein nicht sein, denn das mache ich ja zig Mal am Tage, und da ertönt die Stimme nicht – der Spruch kommt immer nur morgens.
Nun, heute muss ich weder zum Praktikum noch zur Schule. Es ist Weihnachten. Zwischen den Jahren nahm ich mir zudem frei. Ich hoffe, dass die Anspannung, in der ich die letzten Wochen stand, langsam abebbt. Ausgerechnet am letzten Tag vor meinem Frei platzte mir der Kragen. Ich saß neben der Tumordokumentarin, die ich am wenigsten abkann. Aber gut, Arbeitskollegen kann man sich nicht aussuchen. Normalerweise bin ich in dieser Hinsicht sehr belastbar. Ich arbeite zurzeit eine Fehlerliste mit gut 600 Fällen ab, querbeet durch alle Tumorerkrankungen und Krankengeschichten. Da gibt es einfache Fälle, wo sich die elektronische Krankenakte in Grenzen hält aber auch solche mit zig Arztbriefen. Für mich als Neuling in der Materie (auch nach mittlerweile sechs Wochen sehe ich mich noch als Neuling) eine mitunter diffizile (beinahe unmögliche) Aufgabe. Ich arbeitete also zwei oder drei Fälle ab, und die Kollegin kontrollierte sie. So weit, so gut. Ich will dazulernen. Dass ich noch Fehler mache, sollte klar sein. Im Kopf war ich bereits im Feierabend, ich hatte nur noch eine gute Stunde, und mit meiner Konzentrationsfähigkeit stand es nicht gerade zum Besten. Mir brannten die Augen – die Buchstaben der Arztbriefe verschwammen vor meinen Augen. Die Kollegin musterte mich von der Seite: „Hast du Fragen? Du weißt, es wird als Desinteresse ausgelegt, wenn man nicht fragt.“ Ich lächelte gequält und entgegnete: „Wenn ich kein Interesse hätte, wäre ich gar nicht hier.“ In mir krampfte sich etwas zusammen. Ich weiß nicht, ob sie`s bewusst tat, aber sie setzte weitere Stiche. „Was fällt dir hier auf? Siehst du, was du vergessen hast?“ Verdammt! dachte ich, wenn ich`s wüsste, dann hätte ich es doch nicht vergessen! „Was habt ihr denn in der Schule durchgenommen?“ Alle Fragen formulierte sie im zuckersüßen Tonfall. Ich sah in ihre schmalen, rotumränderten Augen, die hinter den Brillengläsern gezielt Giftpfeile abschossen. Die Galle stieg mir hoch. „Du musst noch zwei Verläufe für die Nachsorge anlegen!“ „Ja klar, stammelte ich trocken. Tut mir leid, habe ich nicht gesehen.“ Daraufhin sie wieder zuckersüß: „Wie kann man das nicht sehen? Das müsstest du doch inzwischen wissen…“ Sie ließ nicht locker. Bei mir ging nichts mehr. Ich konnte keine klaren Gedanken mehr fassen und kam mir vor wie der letzte Trottel. Tja, und das platzte dann auch aus mir raus, - dass ich jetzt nicht mehr aufnahmefähig sei, und dass mir ihr Ton missfiele, so könne sie ihren Sohn belehren (keine Ahnung, ob sie einen Sohn hat), ich sei inzwischen 54 und ließe so nicht mehr mit mir reden, die Zeiten seien vorbei – und zwar endgültig! „Aber was ich nicht verstehe…“, hakte sie nach. Sie hob auf meinen Wissenstand ab, der doch inzwischen höher sein sollte. „Offenbar bin ich einfach zu blöd“, antwortete ich verärgert und frustriert. Sie rümpfte die Nase. „Schließlich sollst du bei uns etwas lernen, um auch ein paar Aufgaben zu unserer Entlastung zu übernehmen", ihre Stimme, als hätte sie tonnenweise Kreide gefressen (wie der Böse Wolf aus dem Märchen).
„Ja klar, aber bei mir geht eben nicht mehr…“, sagte ich erschöpft.
Ich glaube nicht, dass sie meine Situation verstand. Zum Feierabend waren es nur noch ein paar Minuten. Ich starrte leer wie ausgebrannt auf den Computerbildschirm vor mir, im Kopf nur noch Gedankenmatsch.
Höflich wünschten wir uns frohe Weihnachten und einen guten Rutsch. Die kalte, frische Luft ein Segen, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben wanderte ich zur U-Bahnstation. Was für ein seltsamer Spruch aus meinem Handy des Morgens, was für eine seltsame Welt.

SpeziellesKänguru - 24. Dez. 16, 09:51

total unverschämt! das war eine reine provokation, liegt klar auf der hand. egal, wie hoch oder niedrig jemands wissensstand ist, hat man nicht das recht, sich so zu verhalten.

bonanzaMARGOT - 24. Dez. 16, 09:58

ich denke, dass sie sich an sowas hochzieht, denn es war offensichtlich, wie ich unter ihren (zuckersüßen) vorhaltungen litt. ich habe bei dieser frau von anfang an das gefühl, dass sie falsch ist. aber das ist eben nur mein gefühl, vielleicht auch ein vorurteil...
gestern hielt ich es dann nicht mehr aus, was dumm war. ich wäre gern ohne diesen vorfall ins frei gegangen. zudem wird das ganze sicher im neuen jahr ein nachspiel... bzw. eine fortsetzung haben.
SpeziellesKänguru - 24. Dez. 16, 10:01

genau, das ganze hört sich ziemlich sadistisch an. ich finde, du hast absolut richtig reagiert. ohne scheiß.

bonanzaMARGOT - 24. Dez. 16, 10:07

ich konnte aber nicht mit argumenten punkten... dazu hatte ich zu viel matsch in der birne.
ich zog affektiv eine grenze. im nachhinein komme ich mir nun albern vor - dass ich mich derart verwundbar zeigte.
SpeziellesKänguru - 24. Dez. 16, 10:19

solche leute spüren ganz genau, wann sie die anderen angreifen können. logisch, dass man auf so was nicht gefasst ist. geht mir genauso.

bonanzaMARGOT - 24. Dez. 16, 10:25

ich konnte solche leute noch nie leiden, die dir freundlich sagen, dass sie dich für einen versager halten. da könnte ich kotzen.
SpeziellesKänguru - 24. Dez. 16, 10:33

das sind förmliche arschlöcher. die reagieren ihre eigene unbrauchbarkeit auf diese art und weise ab.

bonanzaMARGOT - 24. Dez. 16, 10:43

keine ahnung, was sie damit abreagieren. darüber will ich mir gar keine gedanken machen.
vielleicht liegt es daran, dass ich ein mann bin. oder ich wirke arrogant auf sie... weiß der teufel! ich bin es satt, mich in diese leute hineinzuversetzen, wobei offenbar niemand für meine situation verständnis zeigt.
AlterRettich - 24. Dez. 16, 11:07

es fehlte noch, sich in solche Leute hineinzuversetzen ... Ich bin auch
der Meinung, du hast dich richtig vethalten. Ich kann auch nicht immer alles schlucken.
Lieben Gruß vom Alten Rettich!

bonanzaMARGOT - 24. Dez. 16, 11:32

ne, immer alles schlucken geht nicht, aber ich hätte es trotzdem gern vermieden kurz vor feierabend, kurz vor meinem frei... nun schleppe ich diese dumme situation durch die tage mit ins neue jahr. vielleicht hätte ich nach den freien tagen etwas entspannter reagiert.
egal. ich mag das ganze nicht aufblasen - wollte es mir nur von der seele schreiben.
AlterRettich - 24. Dez. 16, 11:37

Ne ne, im neuen Jahr brauchst du s bestimmt nicht! Überleg dir mal, was das eigentlich ist - eine Blödheit einer kleinen Dokumentarin, nicht mehr nicht weniger.
Ich bin selber heilfroh, wenn Weihnachten & Co rum ist.
bonanzaMARGOT - 24. Dez. 16, 11:43

ist selten meine beste zeit die zweite dezemberhälfte bis anfang januar.
wahnsinn, wie einem menschen ihre macht spüren lassen - weil sie einen wissensvorsprung haben oder in einer exponierten position zu einem stehen.
es wäre schön, wenn man da immer drüber stünde.
AlterRettich - 24. Dez. 16, 11:47

Hier geht es eher um einen Katzenvorsprung bezüglich des Wissens, oder?
bonanzaMARGOT - 24. Dez. 16, 11:55

mir kommt es nicht wie ein katzenvorsprung vor, eher wie ein riesenvorsprung.
die dokumentarin war früher jahrelang op-schwester und hat ein ganz anderes medizinisches hintergrundwissen.
und wie das in allen bereichen ist: die fachsprache ist schwieriger zu lernen als die sache selbst. es ist für mich wie eine fremdsprache - man kann nur folgen, wenn man die ganzen ausdrücke und abkürzungen versteht.
AlterRettich - 24. Dez. 16, 12:36

Kein Wunder, dass sie auf dem Gebiet etwas mehr weiß - nach all den Jahren. Lass dich von diesen Tanten nicht unterkriegen! Es wird schon!
bonanzaMARGOT - 24. Dez. 16, 13:06

sie sind zum teil ziemlich ausgebufft, diese tanten... für mich ist es schwierig, rein menschlich mit ihnen warm zu werden... auf der anderen seite wird es ihnen wahrscheinich ebenso mit mir gehen. zwei monate habe ich noch vor mir. die können lang sein, wenn man sich wo nicht wohl fühlt.
unterkriegen lasse ich mich auf keinen fall! nur schade um die nerven, die man vergeudete.
die fortbildung tumordokumentation habe ich zur hälfte hinter mir, und ich will sie nun auch erfolgreich abschließen... mit oder ohne praktikum.
steppenhund - 24. Dez. 16, 11:15

Ich weiß ja nicht, was Du für ein Telefon hast. Ich habe dich nicht als Apple-User eingeschätzt. Aber normalerweise gibt es bei den Apple-Produkten eine Tastenkombination, die es erlaubt, Befehle per Spracheingabe zu erteilen. Oder auch Fragen: "Wo bekomme ich die nächste Pizza?" Wenn Du das Handy in die Tasche steckst, scheinst Du diese Option versehentlich einzuschalten und dann interpretiert das Handy die Geräsche, die beim Einstecken entstehen. Und die kann es nicht interpretieren. (Übrigens gibt es bei Samsung auch so eine Option. Die kann man aber ausschalten - in den Einstellungen.)
Was die Frau angeht: ich würde nicht von vornherein annehmen, dass Sie dich ärgern oder heruntermachen will. Es gibt halt einfach Menschen, die kein Gespür dafür haben, ob ein anderer gerade gut ansprechbar ist oder nicht. Und dann gibt es ja noch die Sache mit dem fehlenden Taktgefühl :)

bonanzaMARGOT - 24. Dez. 16, 11:26

ich habe kein iphone.
inzwischen googlete ich und las, dass sowas auch anderen passierte. es ist ja nicht lästig - nur amüsant und in diesem zusammenhang erwähnt, weil der spruch irgendwie passt.

nein, ich gehe erstmal nie von absicht bei sowas aus. allerdings besitze ich genügend menschenkenntnis, um solche spitzen als das zu sehen, was sie sind... nämlich provokationen, und zwar die von der hinterhältigen sorte.
ich schätze diese kollegin nicht als plumpen menschen ein (auch wenn sie so aussieht). sie beherrscht solcherart "kriegsführung" und erinnert mich dabei an eine alte englischlehrerin, die es auch drauf hatte, einem freundlichst zu sagen, dass man ein idiot ist.

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