Jede Minute sollte man vergolden


Ich lausche dem Pfeifen der Berliner U-Bahn und denke, dass es prima als Thema in ein Musikstück einzubauen wäre, ähnlich wie es Doldinger mit dem Echolot-Geräusch in der Filmmusik „Das Boot“ machte. In der Stadt gibt es eine Menge zu hören, was ganz unterschiedlich zu Musik inspiriert, - wenn man die Muse zum Hinhören hat. Meist hetzt man allerdings gestresst durch die Straßen, mitgerissen vom Menschenstrom. Das Unbehagen erfasst mich ganz automatisch, wenn zu viele Menschen und zu viel Verkehr um mich herum sind. Als wir gestern Nachmittag den Weihnachtsmarkt am Gendarmenmarkt aufsuchten, bereute ich schnell meinen Vorschlag, dort hinzugehen. Nach vier Doppelstunden Unterricht am Computer waren meine Nerven schnell überfordert. Ich wunderte mich, wie manche Leute in diesem Gedränge noch etwas essen oder trinken konnten. Eigentlich hätte ich es mir denken können: Sonnabend und dann noch Vorweihnachtszeit – da sucht man als Neurastheniker besser nicht Orte in der Innenstadt auf. Schade um die Zeit, die man dabei vergeudet.
Nach einer kurzen sardinendosenmäßigen U-Bahnfahrt waren wir zurück in unserem Kiez, wo es in der Potsdamerstraße alles andere als entspannt zugeht. Aber wenigstens ist mir dort alles vertraut. Die Sonne hatte sich bereits hinter die Häuser gesenkt, und der Himmel strahlte in einem überirdischen Blau mit schmalen feurigen Wolkenfetzen. Die winterlichen Gerippe der Bäume zeichneten sich dunkel darauf ab. Eine junge Frau vor mir am Fußgängerüberweg fotografierte die Kulisse mit ihrem Handy. Es gibt allerlei schöne und interessante Fotomotive in der Stadt, wenn man die Muse hat hinzuschauen.
In Puschels Pub lief wie jeden Samstag Bundesliga. Hertha spielte gegen Wolfsburg. Wir gingen durch den schmalen Schlauch Kneipe nach hinten, wo noch ein paar Plätze frei waren. Ein alter Sack, bereits Inventar, saß am Geldautomaten. Die „Ratte“, wie O. die Bedienung nennt, brachte uns zwei Berliner Pils und ein Schälchen mit Salzgebäck. Als Hertha den Ausgleich schaffte und schließlich sogar siegte, waren einige Gäste total aus dem Häuschen. Der alte Sack am Automaten grinste nur. Ich trank das Bier und spürte die Müdigkeit von der anstrengenden Woche in mir hochkriechen. Auch O.hatte eine anstrengende Arbeitswoche. Wir redeten nicht viel. O. meinte, wir sollten mal wieder verreisen, worauf ich ungehalten reagierte, ich sei durch Fortbildung und Praktikum bis Ende Februar eingespannt, an ein Verreisen also erstmal gar nicht zu denken. Das kleine Schälchen mit dem Salzgebäck hatten wir schnell leergefuttert. Ein Hund mit schönem schwarzglänzenden Fell (sein Herrchen saß am Nachbartisch) hatte uns dabei eindringlich bittend angeblickt. Als ich O.s traurigen Gesichtsausdruck bemerkte, ärgerte ich mich über meinen schroffen Ton. Auch ich würde am liebsten verreisen, nicht nur für ein Wochenende, sondern gleich für Wochen...
Inzwischen waren alle Samstagsspiele der Bundesliga beendet. Die Reihen der Kneipengäste lichteten sich. Der alte Sack am Automaten zählte sein verbliebenes Geld, und die „Ratte“ hatte Feierabend.

SpeziellesKänguru - 04. Dez. 16, 13:26

quark, ich war doch gar nicht traurig. ich spreche das thema reisen ab und zu gern an, denn es wirkt entspannend auf mich. ist einfach schön zu wissen, dass man eine solche gelegenheit hat (was früher bei mir nicht der fall war). aber auch in berlin fühle ich mich sehr wohl und höre nicht auf, mich über unsere unternehmungen zu freuen. auch wenn wir gar nichts machen und einfach zuhause bleiben, was ziemlich selten zustande kommt :)

es war ein sehr schöner nachmittag gestern!

bonanzaMARGOT - 04. Dez. 16, 13:34

im beitrag meinte ich das fressen auf dem vollen weihnachtsmarkt.
in der u-bahn ist es noch mal `ne andere sache. deine gründe sind nachvollziehbar - ich müsste allerdings schon sehr-sehr hungrig sein, um mir in der u- oder s-bahn was reinzuschieben.
unanständig finde ich es, wenn in einer vollen u-bahn die anderen fahrgäste zusätzlich mit den essensgerüchen belästigt werden.

(obwohl du den teil deines kommentars, auf den ich mich hier beziehe, rauslöschtest, lasse ich meine antwort stehen. tz tz)
SpeziellesKänguru - 04. Dez. 16, 13:44

dieser teil hatte mit dem thema deines beitrags nichts zu tun. deswegen wurde er gelöscht. auch wenn ich oft gezwungenerweise in der u-bahn esse, sind es natürlich keine china-nudeln oder pommes mit ketchup, sondern ganz triviale, nach nichts riechende baguettes.

bonanzaMARGOT - 04. Dez. 16, 14:19

grundsätzlich habe ich gegen gar nichts was.
ich würde über so was keinen streit anfangen. ich schlucke das bisschen ärger hinunter, und gut ist`s.
es verunsichert mich nur, dass ich mich in menschen, die auf vollen weihnachtsmärkten oder in u-bahnen essen, nicht hineinversetzen kann...; wobei auf weihnachtsmärkten es ja normal ist, dass gefressen wird.
SpeziellesKänguru - 04. Dez. 16, 16:45

muss man sich unbedingt in andere menschen hineinversetzen? ... das ist die frage.

bonanzaMARGOT - 04. Dez. 16, 17:01

Ja. Sollte man schon. Zumindest versuchen.
SpeziellesKänguru - 04. Dez. 16, 18:48

Das ist gerade das, was ich die ganze zeit mache.

bonanzaMARGOT - 04. Dez. 16, 18:53

Gut gut. Mehr kann ich auch nicht.
SpeziellesKänguru - 04. Dez. 16, 21:31

wie bist du denn auf den beitragstitel gekommen? das wollte ich eigentlich heute direkt fragen :) klingt auf jeden fall sehr schön.

bonanzaMARGOT - 05. Dez. 16, 06:08

wenn ich morgens auf den wecker schaue, und die minuten ablaufen kurz vorm aufstehen...
AlterRettich - 05. Dez. 16, 20:50

Liest sich sehr spannend. Klingt nach sehr viel Zuwendung und Zärtlichkeit, sehr viel Liebe und Leben.
Einen schönen Abend wünscht euch der Alte Rettich!

bonanzaMARGOT - 06. Dez. 16, 06:12

danke

spannend ist relativ. zur zeit sind wir (wie du) ziemlich eingespannt in die arbeit... viel energie für lange abende oder großartige unternehmungen bleibt da nicht.
AlterRettich - 06. Dez. 16, 06:39

Verstehe. Man muss aber auch nicht unbedingt was Großes unternehmen, um schöne Momente zusammen erleben zu können.
Gruß in deinen Morgen!

bonanzaMARGOT - 06. Dez. 16, 06:55

für mich ist es eine ziemliche umstellung, da ich schon immer auf viel freizeit wert legte. ständige verpflichtungen sind mir ein greuel. ich liebe die zeit, die ich ganz allein für mich habe... dabei muss ich nicht ständig aktiv sein - ich verträume ganz gern die tage und denke zwanglos über gott und die welt nach.

dir auch einen schönen morgen!

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