Warum
Die Zeit ist schneller als der Wind. Wir fliegen mit ihr durchs Weltall. Mit Geheul. Die Erinnerung ist ein Nebel, aus dem sich die Welt und die Figuren schälen. Gespenstern gleich. Die Zeit nimmt uns alles. Bis wir selbst Gespenster sind. Nur sichtbar für die, die es noch nicht sind.
Ich helfe einer Kollegin, die alte Frau zu waschen, weil ich noch Zeit habe, bis mein Bus fährt. Meine Kollegin ist eine fleißige Arbeiterin. Wir sind vollkommen unterschiedlich, und trotzdem mögen und achten wir uns. Die Bewohnerin, die wir waschen, hustet zähen Schleim ab. Sie liegt schon seit Jahren wie eine dicke Heuschrecke im Bett und wird künstlich ernährt. Kein Wort kommt mehr über ihre Lippen. Sie hustet und ächzt. Manchmal zuckt sie unwillkürlich und verdreht die Augen, als hätte sie einen Stromschlag bekommen. Der Sabber läuft aus ihrem Mundwinkel und schäumt. Sie würgt. Meine Kollegin cremt sie von Kopf bis Fuß ein wie ein Baby.
Wir ziehen ihr ein neues Nachthemd an, lagern sie, und ich schließe sie wieder an die Ernährungspumpe an. Die Pumpe surrt monoton.
Ich schaue auf die Uhr. Mein Bus kommt in wenigen Minuten. Sonntags hat er andere Fahrzeiten. Ich verabschiede mich von meiner fleißigen Kollegin. Sie bedankt sich für meine Hilfe. Wir kennen uns schon lange und kennen uns nicht.
Es ist noch dunkel. Die Straßen menschenleer. Die Menschen schlafen sich aus. Sie träumen. Ich stehe an der Bushaltestelle und blicke zum Himmel. Die Erde fliegt mit uns durchs Weltall. Wir merken es gar nicht. Es ist still. Ganz still. Ab und zu ein Auto.
Ich glaube, ich spüre etwas ... wie Liebe.
bonanzaMARGOT
- 01. Dez. 13, 17:48
- Nach der Nachtwache ist vor der Nachtwache