Dienstag, 12. März 2013

TV-Tipp:

"Der Minister", 20 Uhr 15, SAT.1

Schnappschuss




aus dem Zugfenster

Kaffee im Bierglas


Es war wirklich eine Art Zeitreise, und um es vorwegzunehmen: keine sehr angenehme. Ich erkannte einiges ihres Mobiliars wieder. Auch der eigentümliche Geruch stieg mir sofort in die Nase. Ihre Begabung, möglichst vieles in einer 1-Zimmerwohnung unterzubringen, hatte sie nicht eingebüßt. Ähnlich wie ich wohnt sie am Stadtrand mit einem schönen Blick in die Natur.

Kaum war ich angekommen, prasselten unaufhörlich Wörter auf mich nieder. Sie redete ohne Pause. Nur manchmal, wenn sie aus dem Fenster heraus rauchte, war kurz Ruhe. Ich brauchte einige Bier, um mich zu betäuben und auch mal zum Zuge zu kommen. Mir schien, dass ihr Charakter mit den Jahren noch extremer geworden war. Sie ließ an ihren Mitmenschen kein gutes Haar. Tausende Namen und Geschichten tischte sie mir auf – wild durcheinander. Die Protagonisten waren ausnahmslos Psychopathen, Betrüger, Alkoholiker und Drogensüchtige.

Wir unternahmen einen Spaziergang hinunter ins Weinstädtchen. Die frische Luft wirkte wie ein Lebenselexier. Es regnete leicht. Im „Hexenstüble“, einer Rock-Kneipe, kehrten wir ein. Die Musik lenkte ab. Ich schaute mich um und fühlte mich nicht mehr derart ihrem Redeschwall ausgesetzt. Keine einzige ihrer Geschichten könnte ich korrekt nacherzählen. Lediglich einzelne Wortfetzen verhakten sich in meinem Kopf: Sexlover, Tilly, Negerin, Vermieter, Rolli, der Koch, der arme Hund, Psychopath, Knochenschmerzen …; und immer wieder sagte sie, dass sie nichts mehr schocken könne.

Sie konnte unmöglich noch Zeit zum Denken haben. Wie hatte ich sie damals eigentlich ertragen? Niemand konnte mit dieser Frau lange klarkommen. Sie war nicht nur eine Quasselmaschine – sie wurde nach und nach aggressiver und beschimpfte ihre Partner. Keine Ahnung, was sie für eine Persönlichkeitsstörung hat. Warum war ich bei ihr zu Besuch? Eigentlich wollte ich mal mit einer lebenden Seele über meinen Scheiß quatschen. Hatte ich verdrängt, wie sie ist? Beruhigend war wenigstens der Umstand, dass ich jederzeit die Flucht ergreifen konnte.

Per Taxi fuhren wir am späten Abend zurück. Ich übernahm die Rechnung. Sie lebt schon seit ewigen Zeiten von der Grundsicherung. Eine Lebenskünstlerin ist sie – das muss man ihr lassen. Die Müdigkeit überfiel mich. Es war ein anstrengender Tag gewesen, und ich wollte nur noch auf ihrer Couch einschlafen.
Aber sie gab keine Ruhe. Sie schoss sich auf mich ein. Zwecklos, in diesem Zustand mit ihr zu diskutieren. Ich musste einen Brüller fahren lassen. Es dauert für gewöhnlich sehr lange, bis ich auf Hundertachtzig bin. Sie hatte es wieder geschafft. Endlich war Ruhe. Der Gedanke, in die Nacht hinaus zu flüchten, hatte mich nicht gerade entzückt. (Notfalls hätte ich sie geknebelt und ans Bett gefesselt.)

Am Morgen tranken wir noch Kaffee. Sie servierte mir einen im Bierglas. Ich versuchte, ihre Stimme an mir abprallen zu lassen, was nur bedingt funktionierte.
„Schön, dass du da warst. Melde dich mal wieder“, sagte sie zum Abschied - in dem für sie typischen Sing-Sang, der einem nicht mehr so schnell aus den Ohren geht. Ich sagte nichts darauf. Wir umarmten uns kurz.

Die Frau ist eine echte Plage, dachte ich, als ich im Bus saß, ein Wunder, dass sie noch niemand um die Ecke brachte. Ein kalter, grauer Montag nahm mich in Empfang. Ich wollte nur schnell nach Hause und den Hummelschwarm in meinem Kopf loswerden.

ein literarisches Tagebuch

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