Wir können es uns nicht aussuchen
Klaus kommt mir auffällig oft entgegen geschlappt, wenn etwas besonderes in meinem Leben anliegt. Und dann kann es sein, dass ich ihn wochenlang nicht zu Gesicht kriege.
„Wohin des Weges?“ fragte er.
„Zur Beerdigung meines Vaters“, antwortete ich. Klaus wollte ins Kaffeehaus. Und ich eilte zur Straßenbahnhaltestelle in entgegengesetzter Richtung. Er wünschte mir viel Kraft, und jeder ging seiner Wege.
Ein sonniger Tag. In der Stadt stieg ich in ein Taxi um. Zufällig erwischte ich ein schwarzes. Es war früher Nachmittag. Als ich den Friedhof erreichte, sah ich niemanden. In der kleinen Friedhofskapelle spielte bereits die Orgel. Sargträger, die draußen warteten, fragte ich nach der Beerdigung, um die es ging. Ich wollte keine fremde Veranstaltung stören – doch es war mein Vater, der zu Grabe getragen werden sollte.
Eine Pastorin sprach über meinen Vater, und zwischendurch wurden Kirchenlieder gesungen. Ich hatte hinter meiner Mutter einen Platz gefunden. Sie war umrahmt von der anderen Verwandtschaft. Ich konnte mich der andächtigen Stimmung nicht erwehren, obwohl ich solcherlei Zeremonien hasse.
Als wir draußen waren, sagte meine Mutter zu mir: „Schön, dass du noch gekommen bist.“ Ich hielt ihre schwache Hand am Griff des Rollators auf dem Weg zur letzten Ruhestätte. Die Pastorin sprach das Vaterunser, der Sarg mit Vater wurde herab gelassen. Jeder Trauergast trat vor und schmiss Blütenblätter oder Sand auf den Sarg hinab. Wir hatten mit Blütenblättern angefangen, und darum machten die meisten mit Blütenblättern weiter. Diese Prozedur dauerte ein Weilchen.
Meine Mutter bedankte sich bei der Pastorin. Wir schritten zurück zum Parkplatz. Im Altenheim war Kaffee und Kuchen vorbereitet. Ich sagte meiner Mutter, dass ich lieber alleine bleiben wolle und verabschiedete mich von der Verwandtschaft.
Ich ging eine Strecke durch meinen Geburtsort. Überall roch es nach Erinnerungen, auch wenn vieles erneuert war. Ich ging vorbei am alten Bahnhof, vorbei am Kiosk am Bach, wo wir Kinder Wundertüten kauften, vorbei an dem Mietshaus, wo ich meine Kindheit verbrachte, vorbei am Jugendkeller „Loch Ness“, wo ich mein erstes Bier trank (für eine Mark damals), vorbei an dem ersten Kaufhaus der Stadt, vorbei an einigen Geschäften, die überdauerten, und an vielen, die neu waren … Alles sah sehr proper aus. Etwas zu viel für meinen Geschmack. Aber in dieser Atmosphäre wuchs ich auf.
Wenn ich meine Eltern besuchte, redete Vater oft darüber, wie sich die kleine Stadt gemausert hatte. Der Wohlstand war überall sichtbar. Leider etwas auf Kosten des Charakters der Stadt. Aber das ist nur meine Meinung. Dasselbe dürfte auf viele deutsche Kleinstädte zutreffen: Sie sind bieder und langweilig - spiegeln die Geisteswelt ihrer Einwohner wider.
Trotz allem bleibt Heimat Heimat und Familie Familie. Es entsteht ein Gemisch ganz unterschiedlicher Gefühle. Ich wusste, dass ich nie zurückkehren konnte. Ich ging auf Bildern der Vergangenheit spazieren. Dabei lagen hier meine Wurzeln. Ich suchte nach bekannten Gesichtern, aber fand keine. Ich war inzwischen ein Urgestein dieser Stadt, das kurz als Gespenst zurückkehrte.
Mein Vater wurde gestern beerdigt. Der Tod war gnädig. Menschen sterben nicht einfach. Sie werden in unseren Erinnerungen weitergereicht. Sie leben in unseren Genen.
Wir können es uns nicht aussuchen.
Innenstadt
bonanzaMARGOT
- 07. Mär. 13, 11:43
- Die Arschwischmaschine hat frei