Dienstag, 27. November 2012

Vom Loslassen


Es ist unendlich schwer loszulassen. Am Schwersten ist es, das eigene Leben loszulassen. Die Soldaten in den Schützengräben wussten davon ein Lied zu singen. Als junger, kräftiger Mensch will man schon gar nicht sterben. Der Jammer ist aber in jedem Fall groß. Es sind die Ausnahmen, die dem Tod schließlich gelassen ins Auge blicken. Ganz egal, ob alt oder jung. Ich weiß nicht, wie ich es schaffen werde. Also, falls ich Zeit zum Nachdenken habe. Auf der Talstrasse fahren viele LKWs, und ich muss sehr oft die Talstrasse überqueren. Dann erspare ich es mir, weise zu werden. Immer wieder denke ich an den Ausspruch einer Arbeitskollegin im Altenheim: „Bevor ich so werde, schieße ich mir eine Kugel in den Kopf.“ Mit „so“ meinte sie die Dementen, die wir pflegen. Damals dachte ich, dass sie das nicht ernst meint. Man sagt so was schon mal leicht dahin. Aber jetzt, wo meine Eltern alt sind, und ich selbst viel geschwinder, als mir lieb ist, auf die dritte Lebenshälfte zusteuere …, überlege ich mir langsam, wo ich mir eine Pistole besorgen kann.
Es ist unendlich schwer loszulassen. Nicht nur von Menschen. Auch von Dingen. Oder von Wünschen und Träumen. Aber das ganze Leben bedeutet „Loslassen“. Nur wird darauf kein Schwein je vorbereitet. Ich erlebte noch nie, dass ein Pfarrer oder Seelsorger wirklich Trost am Sterbebett spenden konnte. Der Tod wurde wie alles, was schwierig ist, bürokratisiert. Wir kennen es gar nicht mehr anders. Es gibt ja auch ungeheuer viele Dinge vorher und auch noch nachher zu regeln. Der Mensch wandert in den Aktenschrank. Der Seelsorger sitzt nicht aus eigenem Antrieb am Sterbebett, sondern weil er dorthin bestellt wurde. Ich selbst verrichte meine Arbeit im Altenheim zunehmend entseelt. Vielleicht noch nicht ganz. Ich spüre aber den psychischen Verfall ganz genau an mir.
Noch mehr am Leben zu sein als die anderen, war mein Ziel. Heute weiß ich, dass ich loslassen muss. Ich lasse los von einer besseren Welt, von besseren Menschen, von allen Idealisierungen; ich lasse los von einer besseren Zukunft und von der Vorstellung, ein guter Mensch zu sein.
Ich kann regelrecht süchtig vom Loslassen werden. Denn kurz danach fühle ich mich immer erleichtert. Nicht, dass ich zu viel loslasse. Am Ende bliebe mir weniger als Nichts. Womöglich der Irrsinn. Wahrscheinlich hat es uns die Natur darum so schwer gemacht loszulassen. Zu viele Selbstmorde würden das Fortbestehen der Art gefährden.
Wer ist eigentlich diese scheiß Natur?


"Manche Leute drehen nie durch - was müssen die für ein grauenhaftes Leben führen."
Charles Bukowski

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