Sonntag, 25. November 2012

Fremder Besuch


Gestern Nachmittag fuhr mir kurz der Schreck in alle Glieder. Es klingelte an meiner Wohnungstür, oder besser es summte. Meine Klingel hat einen schrecklichen Summton. Er fährt einem durch Mark und Bein.
Ein älterer Herr und eine Frau mittleren Alters standen vor meiner Haustür, zwei ziemlich distinguierte Erscheinungen. Er hatte einen Anzug an und trug eine Aktentasche. Sogleich dachte ich an meine Eltern, denn der Mann sah aus, wie man sich einen Notar oder Bestattungsunternehmer gemeinhin vorstellt. Ich stand mit Bermudashorts und T-Shirt im schäbigen, kühlen Vorraum, und sah auf die zwei Gestalten. Es dämmerte bereits. Ich fühlte mich ein wenig asozial in diesem Moment und überspielte dieses peinliche Gefühl, indem ich Haltung annahm und freundlich „Guten Tag“ sagte. Ich erinnere mich nicht mehr an den genauen Wortlaut der ersten Sätze, die der ältere Herr an mich richtete – es interessierte mich nicht. Jedenfalls atmete ich erleichtert auf, als schnell klar war, dass es nur die Zeugen Jehovas waren. Ohne auf seine Rede einzugehen, bedeutete ich den Beiden, dass ich sehr unpässlich sei, dass ich gerade dabei wäre, unter die Dusche zu steigen. „Uff – Gott sei Dank!“ dachte ich nur. Mir war nämlich wirklich das Herz in die Hose gerutscht. So bekam ich den Wachturm in die Hand gedrückt, und die Zeugen Jehovas gingen wieder ihrer Wege, das heißt, sie besuchten meinen Vermieter, der über mir wohnt.

Den Wachturm halte ich gerade in den Händen. Es ist die Juli-Ausgabe. Warum gab er mir eine Juli-Ausgabe Ende November? Auf dem Titelbild der Ausgabe eine junge, blonde Frau, die Hände gefaltet und zum Himmel schauend. Dazu der Satz: „Wer hört zu, wenn wir beten?“

Nun haben sich die Zeugen Jehovas auch mal zu mir verirrt. Sie sind sehr eifrig im Missionieren. Doch bei mir beißen sie auf Granit. Oder um es in deren Wortlaut zu sagen: Ich bin eine verlorene Seele.
(Dabei ist mir oft nach Beten.)

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