Montag, 19. November 2012

Mein Leben ist ein Schwedenrätsel




voller kryptsicher Zeichen - die wenigsten kann ich deuten

Der Tod hat eine 1-Zimmerwohnung


der Tod hat eine 1-Zimmerwohnung in deiner Stadt
beim Bäcker steht er neben dir und bestellt sich
frische Brötchen
im Supermarkt wartet er irgendwo in deiner Schlange
seine Firma heißt L.E.B.E.N.
und er ist der Personalchef
seine Lieblingstätigkeit: Kündigen
der Tod rasiert sich sein abgewetztes Gesicht
und schminkt sich die hohlen Augen
er besticht den Busfahrer deiner Linie und
schreibt die Diagnosen deiner Ärzte
eines Abends, so wünsche ich`s mir, lädt er
mich ein in seine 1-Zimmerwohnung
und wir trinken Glühwein, weil`s bei ihm
so kalt ist, und ich erzähle mit zitternder
Stimme aus meinem Leben und frage ihn
woher ich ihn denn kenne
der Tod ist stumm und sitzt mir gegenüber wie
ein Bekannter, ich halte mich an der warmen Tasse
meine Lippen sind süß und klebrig
ich weiß, dass es besser ist, ihm die Hand zu reichen
denn eigentlich kann ich mich über seine Bewirtung
nicht beklagen
der Tod ist angetan von Leuten, die ihm seinen Job
nicht unnötig erschweren
und darum lächele ich am Ende, und er lächelt
glaub` ich, auch


(1992)


heute wieder ausgegraben

Zurück


Hatschiii! Meine Wohnung ist eingestaubt. Ich komme zurück, und alles ist noch an seinem Ort, nur eben mit einem dickeren Staubbelag. In zwei Wochen kann viel passieren – muss aber nicht. An der Elternfront nichts Neues. Und im Altenheim – ich träumte in den Nächten oft vom Altenheim – wird auch alles wie gehabt weiterlaufen. Ja, ich glaube, dass eine Bewohnerin inzwischen verstarb, denn wenn nicht, wäre es ein Wunder. Zurückkommen ist in jedem Fall seltsam, wenn man eine Zeitlang weg war. Auch wenn es nur zwei Wochen sind. Es ist verwirrend. Die Wirklichkeit hat Risse. Die Wirklichkeit ist nicht in jedem Falle wirklich. Abseits der Träume wird mir klar, dass alles eigentlich irreal ist. Es wurde mir nur eingeredet, dass alles so seine Richtigkeit hätte.
Günther Jauch talkt mit seinen Gästen über den Tod. Er hat einige Krebskranke mit der Diagnose „unheilbar“ in seine Sendung eingeladen. Auf Phoenix läuft die Wiederholung des Abendtalks. Eigentlich wollte ich Musik hören, aber ich lausche dem TV. Schon immer übte das Thema „Tod“ eine große Faszination auf mich aus. Vielleicht ist es seine Absurdität. Weil dies ein Grundgefühl in meinem Leben ist – schon das Dasein ist absurd. Wozu auf die Welt kommen, wenn ich eine Zeitspanne später wieder sterben muss? Ich kann darum auch nicht dankbar für das Leben sein. Natürlich mache auch ich, da ich schon mal da bin, das Beste aus der Situation. Doch die Schwermut bleibt unauflösbar in mein Wesen eingewoben. Ein Grund, warum ich keine (eigenen) Kinder wollte, ist, dass ich das Leben selbst im Grunde ablehne. Harter Tobak – denn zwischendurch lebe auch ich gerne. Doch immer blieb ich ein Fremder im Leben. Ich schaute mich um und wunderte mich. Womöglich habe ich einen Fehler in den Schaltkreisen meines Kopfes. Die Welt um mich herum erscheint mir jedenfalls völlig unsinnig, und in diese Welt auch noch Kinder zu setzen, das wäre wie die passionierte Bejahung dieser Unsinnigkeit. Nun ist die Familie auch in der Westlichen Hemisphäre (noch) Usus, was mich dazu verdammt, ein Leben am Rande der Gesellschaft zu führen. Nein, ich fühle mich deswegen nicht krank. Ich bin auch nicht wirklich unglücklich. Ich lebe einfach in einer schwierigen Disposition zu vielen Dingen, Traditionen, Bräuchen, Gewohnheiten, die den meisten Menschen selbstverständlich erscheinen, - welche so gut wie nie hinterfragt werden.
Dass ich lebe, ist ein Kompromiss, den ich gezwungenermaßen mache. Jeden Tag neu. Wenn überhaupt, dann liebe ich die Freiheit. Ich suche etwas, was im Leben nicht zu finden ist. Meine Wirklichkeit hat lange schon Risse. Ich löse mich auf. Was bleibt, ist etwas, das funktioniert, weil es dazu verdammt ist.
Jauch hat mit seinen Gästen zu ende diskutiert. Der Tod saß gutmütig im Publikum und klatschte. Ich schalte die Musik ein. Im Hintergrund läuft die Waschmaschine. Sie schleudert schon …

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