Samstag, 3. November 2012

Jetzt und Hier


Und nun. Ich sitze hier.

Aber. Jeden Tag sterben tausende von Menschen. Bisher starben immer nur andere.
Wir sehen es jeden Tag im TV.

Nun betrifft es meine Eltern. Wo stehe ich? Was empfinde ich?

Mein Rücken schmerzt von den vielem Hin- und Her in den Nachtwachen.
Die Alten sagen zu mir regelmäßig: Alt werden ist nicht schön.
Und ich antworte: Auch junge Menschen kann es erwischen.
Darauf sagen sie meist nichts.
Ich verstehe ihr Selbstmitleid.
Doch nervt es mich auch. Ich gehe von Zimmer zu Zimmer.
Seit Jahren. Und die Alten klammern sich an mich.
Für ein Gespräch oder etwas menschliche Zuwendung.
Sie haben ihr Leben hinter sich – das sagen sie selbst. Sie haben Angst vor dem Tod.
Das sagen sie selten direkt. Ein paar Wenige sagen, dass sie lieber sterben wollen.
Ohne Selbstmitleid. Und ihnen glaube ich auch. Wir lachen manchmal.
Das nennt man Schwarzen Humor.
Ich liebe die Alten, wenn sie noch … eine Übersicht behalten.
Euthanasie? „Nein“, sage ich.

Ich arbeite in einem christlichen Heim. Ich bin zwar als junger Mann aus der Kirche ausgetreten,
aber ich finde die christlichen Werte nicht schlecht. Mitmenschlichkeit und so weiter.
Die meisten Alten, die ich versorge, haben keinen Kontakt zu Gott. Sie fragen aber nach ihm.
Sie gehen in die Kirche, weil es gesellschaftlicher Duktus ist.
Es gibt gute und schlechte Pfarrer. Ich sah noch keinen, der mir die Sterbebegleitung in der Nacht abgenommen hätte.
Es wird von uns erwartet, dass wir das alles stemmen.
Ich frage mal nach, wo die Seelsorger sind (?!?)

Und nun. Meine Eltern. Irreversibel. Ich scheiße auf die Kirche, und ich scheiße auf unser Sozialsystem! Ich scheiße auf die Schule, und ich scheiße auf die Politiker!
Wem soll ich noch glauben? An was soll ich glauben?
Ein paar gute Menschen gibt es – und die werden erschossen oder ausgeschlossen.
Nein, einige überleben. Sogar unter uns.

Hier oder dort.
Nun ist es gut.

Der K(r)ampf geht weiter


Die Halloween Nacht im Altenheim verlief normal (beschissen). Man könnte auch sagen, dass im Altenheim immer Halloween ist. Bei den Eltern zuhause überstürzten sich die Ereignisse. Mutter hatte Vater trotz der dringenden Empfehlungen des Umfelds vom Krankenhaus wieder nach Hause genommen. Der Sozialdienst des Krankenhauses hätte eine Überleitung in ein Pflegeheim organisiert. Schon in der ersten Nacht spitzte sich die Situation im Elternhaus wieder zu, so dass Mutter völlig erschöpft am nächsten Morgen die Einweisung Vaters in ein Altenheim am Ort selbst bewerkstelligte. Inzwischen ist Vater in der Geriatrie. Sie wurden im Altenheim nicht mit ihm fertig. Seine Demenz ist so weit fortgeschritten, dass er nicht mehr einsichtsfähig ist. Er sieht nur die fremde Umgebung, dass Mutter nicht bei ihm ist, und dass der Rucksackverband zwickt.
Ich blicke auf zwei anstrengende und emotional bewegte, nervenaufreibende Wochen zurück.
Ich fühle mich ziemlich beschissen. Die vielen Nachtdienste und die Dramatik um meine Eltern machten mich fertig.

Gerade telefonierte ich mit meiner Mutter. Sie besucht heute meinen Vater in der Geriatrie. Und ich befürchte fast, dass sie ihn zurückholen wird, wenn sie ihn in einem bemitleidenswerten Zustand dort sieht. Vorsichtig mahnte ich sie nochmals, dass sie Vater unmöglich zuhause versorgen und pflegen kann. Ich erklärte ihr nochmals das Krankheitsbild Alzheimer Demenz.
Sie fragte mich, wann ich nach Kärnten fahre. Ich sagte: „Montag“. Sie fragte, ob ich zwei Wochen bleibe. Ich antwortete: „Ja, aber notfalls kann ich früher zurückfahren.“
„Du kannst Vater unmöglich zurück nach Hause holen“, betonte ich.
„Mal sehen“, meinte sie.
Sie war relativ knapp angebunden am Telefon. Ich denke, sie kocht ihr eigenes Süppchen. Möglicherweise holt sie ihn allein aus Trotz zurück.

Ich fühle mich wie in einem toten Winkel einer Saftpresse gefangen.

ein literarisches Tagebuch

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