Dienstag, 30. November 2010

... dass diese Furcht zu irren, bereits der Irrtum selbst ist (Hegel)



Die Öffentlichkeit wartet auf den Schlichterspruch Heiner Geißlers zum Bahnprojekt Stuttgart 21.
Nach den Plädoyers Für und Wider zogen sich alle noch mal in ihren Kabuff zurück. Und die Journalisten füllen die entstehende Lücke mit Interviews im Umfeld der Veranstaltung.

Auch ich habe eine Lücke zu füllen. Erschreckend hell ist der Tag. Der Schnee reflektiert das Licht.
Die Gegenwart erscheint mir seltsam surreal. Sie brandet in mein Bewusstsein mit ihren Wellen, und ich lausche konsterniert. Menschen umkreisen mich auf nahen und fernen Bahnen wie Satelliten. Plötzlich wechselt der ein oder andere seine Bahn, entfernt sich von mir, und es entsteht eine Lücke. Manche Menschen entschwinden auch einfach spukhaft, als hätte es sie nie gegeben. Ich fange an zu zweifeln, ob ich dies alles überhaupt erlebte. Vielleicht war die Liebe nur ein Schwindel. Ein perfekter Schwindel.
Das gesamte Leben ist ein Irrtum. In dem Moment, wo ich zweifelte, verlor ich den Halt. Woher kommt dieser Zweifel? Warum kann ich nicht zombiegleich den Alltag verbringen? Wie können sich meine Mitmenschen derart perfekt zusammenreißen? Wie sieht es in ihrem Innern aus?
Solche Fragen stellte ich mir schon sehr früh in meinem Leben. Darum wurde die Schulzeit zur Qual. Ich sah Menschen, die gemäß ihrer Aufgaben funktionierten. Während der Pubertät sträubten wir uns dagegen, in diesen Moloch der Erwachsenenwelt überzugehen - doch nach einigen Jahren lichteten sich die Reihen. Meine Kumpels fanden peu à peu ins bürgerliche Spießertum. Und schließlich war ich allein übrig. Heute wirft man mir manchmal vor, dass ich nie richtig erwachsen wurde. Aber ich sehe es anders: ich blieb mir treu, ich wollte meine Gesinnung nicht auf die Gleise des Lebens werfen ..., ich konnte mich nicht anpassen. Die Welt ist mir fremd, wie sie die Menschen gestalten, und wie wir uns in emsiger Betriebsamkeit dem Materialismus unterwerfen.
Immerhin konnte ich mich bis heute durchwurschteln. Manchmal stand ich am Abgrund, doch die Ratio und der Überlebenswille ließen mich durchhalten. Das Leben ist total verrückt. Der Zweifel am Dasein räucherte mich aus. Während die meisten wie lebendig tot ihre Pflichten und Aufgaben erfüllen, fühle ich mich bereits tot - mit einem armseligen und skurrilen Rest Lebendigkeit, an den ich mich mal mehr oder weniger verzweifelt klammere: an eine Handvoll Menschen, meine Erfahrungen in der Altenpflege, an eine Liebe, an meine Lust und Sinnlichkeit ...

Inzwischen kann es nur noch wenige Minuten dauern, bis Heiner Geißler ans Rednerpult tritt. Alle sind gespannt darauf, was er zu sagen hat. Man sagt, er sei moralisch integer. Mal sehen.
Ich überlege mir, was ich mit dem Rest des Tages anfangen soll. Er ist immer noch blendend anwesend.
Gestern dieses Schneetreiben, und ich traf Klaus im Kaffeehaus. Klaus ist ein zorniger wie gutmütiger Mann Anfang Sechzig, der vor wenigen Jahren seine krebskranke Frau verlor und damals recht eigentümliche Erfahrungen mit Pflegediensten und unserem Sozialstaat machte. Wir verstehen uns gut, auch wenn mein Zorn aus einer anderen Anlage und anderen Erfahrungen entstand.
Es ist eine Weile her, dass sich in meinem Leben eine neue Freundschaft ergab. Keine Fuzzi-Sache. Und keine Verliebtheit. Sondern echte Freundschaft. Mal sehen. Ich mag Klaus.

Mein Gott, die beraten immer noch. Logisch, dass ich für die Stuttgart 21 Gegner bin. Die stehen einfach für die menschliche und ökologische Seite, während Bahn und Politik kapitalistische Interessen abseits jeglicher Vernunft durchsetzen wollen. Komisch, sogar an den Gesichtern erkannte ich diese Zweiteilung. Die Befürworter von Stuttgart 21 grinsten oft selbstgefällig und zeigten dabei echte Verbrechervisagen, während die Gegner eigentlich durch die Bank weg wesentlich sympathischer rüber kamen. Aber natürlich bin ich voreingenommen.
Es gibt selten solche wirklichen Schauspiele, wo Bürger auf die Macht treffen ..., sachlich und mit rhetorischem Vermögen.

Es dauert noch, sagt der "Flur Funk".


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