Donnerstag, 19. August 2010

Neunzehn Nächte in vierundzwanzig Tagen


Shit, gestern lag der Septemberplan auf der Station - der September geht weiter, wie der August aufhört: neunzehn Nächte in vierundzwanzig Tagen! Die Urlaubszeit schlägt zu Buche.
Was würde ich drum geben, nie wieder ein Altenheim von innen sehen zu müssen, nie wieder in der Altenpflege arbeiten zu müssen, überhaupt nicht im Sozial- oder Gesundheitsdienst ...
In ein paar Jahren komme ich an ein Festgeld, was meine Eltern für mich anlegten. Dann kann ich mir wenigstens mal eine Auszeit nehmen, falls das Geld nicht für Schulden drauf geht, die ich bis dahin habe. Wer weiß das schon? Gerade muss ich meinem Zahnarzt dreitausend Euro in der Rachen schieben.
Am Besten wäre aber, es ließe, besser heute als morgen, einen Schlag, und ich könnte das Kapitel Altenheim und Nachtwache ein für allemal abschließen.
Um ein wenig Hoffnung für die nächsten arbeitsreichen Wochen am Leben zu halten, werde ich seit langem wieder einen Lottoschein ausfüllen - nur ein Feld mit vier Wochen Laufzeit. Fehlen nur noch die richtigen Zahlen. Unvorstellbar, wie glücklich ich wäre, falls ich gewänne! Endlich würde die Last der Maloche von meinen Schultern fallen. Ich laufe eigentlich schon auf Notstrom.

Die Frau wird bereits seit fünfzehn Jahren künstlich über eine Magensonde ernährt. Sie bekam den Alzheimer sehr früh mit Mitte Fünfzig. Nun liegt sie seit Jahren spastisch, Schleim abhustend und stöhnend bei uns. Am Wochenende bekam sie Fieber, erbrach Kaffeesatz, und wir sagten: "Vielleicht schafft sie es jetzt." Aber mit dem Antibiotikum geht`s ihr wieder etwas besser. Ist es nicht schlimm, wenn man sich für einen Menschen wünscht, dass er endlich das Zeitliche segnet? Ich musste die Frau stündlich absaugen. Ihre Mundhöhle war voll braunem, übel riechendem Schleim, der langsam aus ihrem Mund auf das unterlegte Handtuch floss - ihr Gesicht bleich, kaltschweißig, die Augen müde und matt.
Aus dem Stockwerk über mir hörte ich einen dumpfen Schlag. Als ich nachschaute, lag ein Bewohner rücklings halb unter seinem Bett. Der Mann ist demenzkrank und hat dazu Parkinson. Er rafft so gut wie gar nichts mehr, aber er ist nachtaktiv und kann, wenn auch sehr wacklig, noch gehen. Meiner Ansicht nach müsste man ihn zu seiner Sicherheit fixieren. Es ist nur eine Frage der Zeit, dass er sich den Oberschenkel bricht oder sich anders ernsthaft verletzt. Glück im Unglück: vorsichtig ziehe ich den Mann unter dem Bett hervor und stelle keine Blessuren an ihm fest. Irgendwie bugsiere ich ihn zurück ins Bett und kontrolliere seine Windel. Inzwischen klingelt es. Ein Ehepaar muss noch ins Bett gelegt werden. Sie sind geistig fit und schauen abends noch fern. Der Ehemann, bereits über Neunzig, schüttet mir oft sein Herz aus. "Es ist nicht schön, alt zu werden", sagte er mir, und ich erwiderte: "Na, sie machen mir Mut."
Er ist mit der Heimsituation permanent unzufrieden. Immer gibt es etwas, was ihm gegen den Strich läuft. Ich hörte ihm zu, während ich ihn versorgte. Er macht sich nichts vor: "Lange geht es mit mir nicht mehr." Am meisten wurmt ihn, glaube ich, die Abhängigkeit und die Bevormundung. Das Pflegepersonal ist da nicht immer sensibel.
Es war Dreiundzwanzig Uhr, und ich konnte das erste Mal durchatmen. Um mich abzulenken, schaltete ich den Stationsfernseher ein. Was mache ich hier nur? dachte ich und hoffte, dass die Nacht ohne großen Scheißdreck vorbei gehen würde. Der Nachtdienst allein mit der Verantwortung für fünfzig Bewohner ist eine besondere, psychische Herausforderung.

Neunzehn Nächte in vierundzwanzig Tagen! Wenn ich die überstanden habe, werde ich erleichtert aufseufzen. Und vielleicht nagt bis dahin auch der Liebeskummer nicht mehr so stark an mir.
Wie auf meinen Fahrradreisen werde ich mich Tag für Tag, Etappe für Etappe durchbeißen.
Ich bin müde.

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