Donnerstag, 10. Juni 2010

Der amputierte Mann


Manchmal frage ich mich, warum ich keine Kinder habe. Und dann denke ich, dass es sowieso zu spät ist jetzt. Muss man denn Kinder haben wollen? Bin ich irgendwie unnormal, weil ich nie wirklich den Kinderwunsch verspürte? Mit Sicherheit verpasste ich somit die von der Natur vorgesehene Weiterentwicklung zur Elternschaft. Ich werde viele wunderbare Ereignisse nicht erleben, bzw. sie nur aus meiner Erinnerung heraus aus der Sohnperspektive nachvollziehen können. All das Glück, was meine Eltern mit mir hatten, vom ersten Milchzahn bis zu den Männlichkeitsritualen, also den ersten Besäufnissen ...; wie groß muss ihre Liebe gewesen sein? Liebe ist eigentlich ein viel zu schwaches Wort dafür, was Eltern gegenüber ihren Kindern empfinden müssen. Durch meine Kinderlosigkeit habe ich mir freiwillig die Chance auf dieses Gefühl und die damit zusammenhängende Erlebnisbreite sowie Reife genommen. Wenn ich mir überlege, was manche Paare andererseits auf sich nehmen, um ein Kind zu bekommen ... Ist die Welt nicht verkehrt, dass jene, die sich unbedingt Kinder wünschen, sie nicht einfach bekommen können, währenddessen ein Potenzkamerad wie ich sein Sperma sozusagen zum Fenster heraus wirft?!
Über die Gründe, warum ich keinen Nachwuchs will, kann ich selbst nur mutmaßen: Zusammengefasst: 1. Ich wollte nie heiraten. 2. Ich bin definitiv zu faul. 3. Es gibt meiner Meinung nach mehr als genug Menschen auf der Welt. 4. Ich finde es ungeheuer, dass ich für einen neuen Menschen, ein neues "Ich" mitverantwortlich bin ...
Es sind gleichermaßen rationale wie irrationale Gründe, - vielleicht weniger emotional als bei jenen, welche sich unbedingt fortpflanzen und in diese Welt eine Nachkommenschaft entlassen wollen. Ich weiß nicht, denn ich kann real nicht nachvollziehen, warum das Erwachsenenleben notwendigerweise mit einer Elternschaft verknüpft sein soll. Ich finde es ganz gut, dass die Zahl der Singlehaushalte anwächst. In meinem Alter finde ich meist nur Frauen nach Scheidungen oder kurz davor, alleinerziehend mit mehr oder weniger schwierigen Kindern. Anfangs geht das auch ganz gut, weil diese Frauen eh erstmal keine feste Bindung eingehen wollen, aber wenn dann doch richtige Liebe im Spiel ist, kommt die Familie mitsamt Kindern also auf Umwegen auf mich zu. Nun lehne ich Kinder nicht ab - da würde man meine Haltung gänzlich falsch verstehen - aber ich will kein Vater sein, auch nicht von anderen Kindern. Bestenfalls will ich ihnen ein Kamerad oder (sogar) Freund sein. Dummerweise gerate ich in der Praxis früher oder später in eine Zwickmühle, weil es gar nicht einfach ist, sich nicht einzumischen. Am Besten läuft es, wenn die Kinder bereits groß sind und ihre eigenen Wege gehen. Na ja, in wenigen Jahren bin ich auch schon Fünfzig. Mit Omas ist es hoffentlich unkomplizierter.

Als Zwanzigjähriger dachte ich nicht darüber nach, wie schwierig es für mich als Dauersingle mal werden sollte. Ich sah nur die Vorteile, vorallem meine Freiheit. Nein, auch heute bedaure ich meine Haltung nicht. Allerdings hätte ich mir nicht vorgestellt, dass ich immer wieder indirekt durch die Scheidungsgeschichten und Erziehungsprobleme anderer dann doch in die ganze Familienmisere und die Verantwortungsfrage hineingezogen würde. Alles fordert seinen Tribut. Ich wollte keine Kinder, aber auch nicht ins Kloster. Heiraten war mir schon als Kind irgendwie suspekt. Und Familie empfand ich die meiste Zeit als eine Bürde, als ein Muss ...
Die Jahre vergingen. Ich hatte meine guten und schlechten Tage. Ich liebte. Ich durfte viel lieben; das hätte ich gar nicht gedacht, wo ich doch in gewisser Weise mit meiner Einstellung ein Sonderling bin.
...



Nachsatz:

Wenn Kinder erstmal da sind, sollten wir ihnen auch eine gute Zukunft bereiten, und Chancen zur Selbstverwirklichung. Aber die Bedingungen sind in einer Leistungsgesellschaft nicht gerade die Besten. Wo bleiben unsere schwachen Kinder, die doch ebenso liebenswert sind?? Schon bei den Kindern rutschen wir in eine Zweiklassengesellschaft. Chancengleichheit ist eine Schimäre. Finanzschwache und alleinerziehende Eltern sind benachteiligt. Sie kämpfen oft wie die Löwen, doch es werden ihnen immer wieder Steine in den Weg gelegt. (An dieser Stelle meine Hochachtung vor alleinerziehenden Frauen.)
Ich kann gut verstehen, wenn manche Mütter am Liebsten den Bettel hinschmeißen würden. Sie leisten unglaubliches, wenn sie gleichzeitig mit Scheidung, altem Partner, neuem Partner, den Eltern, den Schwiegereltern, natürlich und vorallem den Kindern und schließlich noch mit einer Berufstätigkeit zu tun haben.
Es gibt nach wie vor viel zu wenig Unterstützung durch die Gesellschaft für solche problematischen Lebenslagen; dabei wäre es eine sinnvolle Investition, weil Folgeerkrankungen der Kinder und Eltern vorgebeugt würde. Wir fordern ständig Leistung, aber ermöglichen erst gar nicht, dass die Schwachen und Benachteiligten eine gerechte Chance bekommen.

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