Sonntag, 7. Februar 2010

Fluch oder Wunder

Der freundliche Bestatter sagte: “Irgendwann hole ich Sie hier raus, und dann können die sehen, wo sie bleiben!” Er hatte mich gefragt, ob ich immer noch alleine in der Nacht sei. Er kann es einfach nicht fassen, dass wir, seit die Bewohnerzahl auf Fünfzig reduziert wurde, fortan die Nächte alleine im Altenheim sind. Auch die Ärztin, die ich wenige Tage zuvor im Haus hatte, um eine Leichenschau vorzunehmen, sagte nur: “Das ist verantwortungslos!” Ich konnte nicht widersprechen.
Zwei Sterbefälle binnen weniger Tage. Bei uns geht es seit vielen Wochen zu wie im Taubenschlag. Bewohner sterben oder ziehen in ein anderes Heim, und die leeren Betten werden mit Kurzzeitbewohnern wieder aufgefüllt. Es darf keine Lücke entstehen. Zimmerbelegung und Personalstand werden vom Träger hart kalkuliert. Wahrscheinlich muss das so sein. Als einfache Pflegekraft habe ich keine Ahnung von diesen betriebswirtschaftlichen Dingen. Ich sehe nur die Überforderung, der wir durch zu wenig Personal ständig ausgesetzt sind, und wie sich alle unter der Belastung ducken und ächzen, es aber auf der anderen Seite nicht offen zugeben können - denn es könnte als Schwäche ausgelegt werden.
Nach fünf Nächten fühle ich mich wie betäubt, innerlich hohl. Zwei Bewohner verstarben. Die Winterzeit bedeutet eine Zäsur für die Alten. Der Tod holt sie zu sich, als wären sie Perlen, die er zu einer Kette auffädelt. Meist sterben zwei, drei Bewohner relativ kurz hintereinander. Es ist, als führe der Tod alle paar Wochen wie ein Wind durch das Altenheim, und die Schwächsten nimmt er mit sich.

Eines Tages wird mich der Bestatter tatsächlich abholen wie jeden von uns.
Das Leben ist vollkommen verrückt und unverständlich. Sisyphusgleich mühen wir uns ab, versüßen unser Dasein mit materialistischen oder spirituellen Wunschträumen, … im Diesseits gefangen. Wir eiern durchs Leben, betäubt von der größten Droge: “Wirklichkeit”. Morgen ist ein neuer Tag, und ich lebe - Fluch oder Wunder?

ein literarisches Tagebuch

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