Dienstag, 1. Dezember 2009

Glühwein trinken!



Ich begrüße den Dezember, den zwölften und letzten Monat dieses Jahres. Ein ausgehendes Jahr erweckt die Illusion, dass bald etwas neues beginnt, dass mit dem Kalenderjahr mehr wechselt als nur die Jahreszahl. Und davor die Weihnachtszeit, die auch zum Wünschen und einem versöhnlichen Jahresende einlädt - ja, ich verstehe gut den Wunsch nach Erneuerung, nach Hoffnung und Geborgenheit. Oft kommt mir das Leben wie ein Sumpf vor, in dem ich unwiederbringlich feststecke.
Jede Bewegung ist mühsam, Nebel verschleiert die Sicht; ich taste mich von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, von Monat zu Monat.
Ich begrüße den Dezember, den zwölften und letzten Monat dieses Jahres - der Monat meiner Geburt.
Mein Gott, plötzlich war ich da und sah an einem Dezembertag zum ersten Mal das Angesicht der Welt. Ich sah, ohne zu wissen. Ich wusste nicht, in was ich hineingeboren war. Mein Herz schlug für das Leben, es schlug für Neugier und Liebe. Ich war da und brauchte einen Platz. Die Welt hatte gezaubert. Welch furioses Zauberkunststück - meine Existenz! Alles war neu und spannend. Ich besaß alle Hoffnung der Welt. Der Anfang kann nicht an das Ende denken. Ich lernte, einen Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Ich lernte Kultur. Ich hatte Milliarden Brüder und Schwestern.
Ich begrüße den Dezember, den zwölften und letzten Monat dieses Jahres. Ich wurde, was man Erwachsen nennt. Meine Neugier brannte nach wie vor. Aber ich fand keine Orientierung. Die Saat des Zweifels und des ewig Hinterfragenden war bereits aufgegangen. Die Welt wurde mir immer fremder. Ich fragte mich, warum die meisten meiner Mitmenschen so wenig hinterfragen. Ich fragte mich, warum Menschen einander bekriegen und umbringen, und warum das Wunder des Lebens von dem Menschen so wenig geachtet wird. Auf der anderen Seite betet der Mensch, ringt um Gerechtigkeit und Menschlichkeit - aber nichts davon wird wahr ..., es bleibt Makulatur. Die Schatten des Lebens kamen auch über mich. Das Leben wurde zum Labyrinth, für ein Weiterkommen musste man kämpfen, lügen und betrügen.
Ich begrüße den Dezember, den zwölften und letzten Monat dieses Jahres - meine Seele blutet. Habe ich eine Seele? Was sind 47 Jahre? Wer bin ich? Ich sehe meine Vergangenheit, als wäre sie ein Traum. Die Wirklichkeit selbst wird zum Traum. Das Leben ist die perfekte Illusion. Wir sind Zuschauer, Darsteller und Magier zugleich. Alles dreht sich. Dieser Jahrmarkt ist anarchistisch. Gott ist darin auch nur eine Figur - in der Geisterbahn. Ich sitze mit einem Fischbrötchen vor dem Festzelt und betrachte die Szene. Wozu noch aufstehen? Für Weihnachten und Silvester bestimmt nicht. Da muss schon was wirklich neues kommen. Wie eine Geburt. Oder wie was Außerirdisches.
Ich begrüße den Dezember, den zwölften und letzten Monat dieses Jahres. Ich verstehe gut den Wunsch nach Erneuerung, nach Hoffnung, ... und Geborgenheit. Das ist das Kind in uns, und bedeutet gleichsam die Grausamkeit. Der Tod ist der finale Trick, der aber nur funktioniert, wenn wir nicht hinter die Kulissen blicken. Wahrscheinlich ist es nicht mal vorgesehen, sich darüber - wie ich - Gedanken zu machen. Und wenn doch? Wohin führen schon solche Gedanken? Doch nur in Schwermut, Verzweiflung und Selbstmord ...
Entschuldigt. Ich bin kein Selbstmörder. Ich bin ein Narr und Spiegelfechter.

Die Weihnachtsmärkte haben geöffnet. Die Tage sind kurz. Wir genießen die Gemütlichkeit der langen Abende, das Zusammenrücken und die kuscheligen Pullover. Ich erinnere mich gern an die wärmenden Umarmungen im Winter. Die Seelen glühen, sie wollen glühen ...
Ich begrüße den Dezember, den zwölften und letzten Monat dieses Jahres. Der Tag vergeht gleichmütig wie alle. Minuten sind Minuten, und ich liege in den Stunden, als triebe ich auf dem Toten Meer.
"Hi Baby!"
"Hi!"
"Glühwein trinken?"
"Klar."
"Ich liebe dich."

ein literarisches Tagebuch

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