Der Gedanke
Gerade kam mir ein Gedanke in den Kopf. Er schoss mir nicht in den Kopf wie ein Geistesblitz, vielmehr kam er einfach daherspaziert, und schaukelt dabei mit dem Spazierstock, und schaut geziert und tut unschuldig, als wäre er ein Gedanke wie jeder andere: Tja, da bin ich nun - hast du mich etwa noch nie gedacht? Stelle dir einen vierzigjährigen Menschen vor, Mann oder Frau, egal, einen führenden Angestellten meinetwegen, oder eine Mutter von drei Kindern, nebenbei berufstätig, eine Krankenschwester oder einen Altenpfleger, einen Baggerfahrer, eine Politikerin ... mit Vierzig auf der Höhe seines Lebens, in der Mitte seines Lebens, voll ausgebildet, mehr oder weniger erfolgreich; interagiert mit seiner Umwelt, als wäre das Peanuts. Selbstverständlich hat er seine Orgasmen, und längst alle Stellungen ausgetestet. Über den Bauchansatz redet man nicht. Selbstverständlich hat er Familie, Freunde und Bekannte, und er feiert jedes Jahr Weihnachten und Geburtstage und sonstige Jubiläen oder Feste. Selbstverständlich betrachtet er stirnrunzelnd seine Kontoauszüge und fährt an den Wochenenden mit seiner Familie in den Vergnügungspark oder zu den Eltern. Voll ausgebildet sind diese Vierzigjährigen. Mit wenigen Ausnahmen haben sie auch reichlich hinter die Binde gegossen. Was für eine erstaunliche Entwicklung, findest du nicht?! sagt mein Gedanke fordernd, und wirbelt dabei mit dem Spazierstock. Von der befruchteten Eizelle - einem Nichts quasi - hin zu diesen voll ausgebildeten ... Monstern, entschuldige bitte, mein Gedanke räuspert sich, in nur vierzig Jahren, das heißt in vierzig mal dreihundertfünfundsechzig Tagen oder in vierzig mal dreihundertfünfundsechzig mal vierundzwanzig Stunden, was nach Adam Riese nicht mal dreihundertfünfundsechzigtausend Stunden sind, so viele Stunden wie eine mittlere, deutsche Großstadt Einwohner hat. Ich befürchte, dass mein Gedanke jetzt abschweift, aber er lässt mich nicht los. Reihe eine erlebte Stunde, wegen mir die Mittagspause, dieser Großstadtbewohner hintereinander - was ist schon eine Stunde? Die erste Halbzeit eines Fußballspiels plus Pause, oder die Zeit, um gemütlich an einer Bar zwei Bier zu trinken, oder zwei Drittel einer Psychologievorlesung ..., - dreihundertfünfundsechzigtausend mal zeitlich hintereinander gesetzt ergibt diese eine belanglose Stunde die Lebensdauer eines Vierzigjährigen. Ist das nicht verrückt? Da steht dieser voll ausgebildete Mensch und war vor dieser Stunde nichts als eine befruchtete Eizelle ...
Ich weiß nicht, ob der Gedanke nun ausgereizt ist. Oder hat er sich verloren? Alles ist doch furchtbar normal. Was wollte ich eigentlich sagen?
Der komische Gedanke wendet sich ab, kratzt die Kurve. Das Letzte, was ich von ihm zu sehen bekomme, ist sein Hüftschwung, und wie sein Spazierstock federleicht durch die Luft wirbelt.
(boma, 2003)
bonanzaMARGOT
- 23. Feb. 09, 16:17
- boMAs Gedichte und Texte
das werd ich noch mal in ruhe lesen.