Die Leichenschau

Der Arzt war ein Komiker und quatschte viel. Meine Kollegin und ich warfen uns amüsiert Blicke zu. Wir drehten den Toten, und der Arzt begutachtete den leblosen Körper. Er schaue nach Einstichstellen, sagte er ironischerweise, und als er am Hals war, meinte er: "Aha, alle Spuren vom Strick entfernt."
"Wir sind halt Profis", erwiderte ich. Der Tote war käseweiß, wie man sich typischerweise eine Leiche vorstellt, an den Auflagestellen bereits leicht blaurötlich angelaufen, marmoriert, wie man sagt.
Ich fand ihn gleich nach Dienstbeginn, als ich durch alle Zimmer ging, um zu kontrollieren, ob sie noch alle da waren. Ich sah auf den ersten Blick, dass er tot war. Seine Augen sahen aus wie bei einer Puppe, als wären sie eingesetzt. Das Fenster zur Seele war nur noch ein Fenster, dahinter wohnte niemand mehr. Es war einer jener Todesfälle, wo man im Grunde seines Herzens Erleichterung empfand. Der alte Mann war in den letzten Monaten zum schweren Pflegefall geworden. Jede pflegerische Verrichtung wurde zur Qual. Er erbrach das wenige, das man ihm mit Mühe noch einflößen konnte. In den Jahren meiner Altenpflegetätigkeit hatte ich ein Gefühl entwickelt, wann die Zeit für einen Menschen gekommen war. Trotzdem war ich überrascht, als ich den Toten fand. Sterbefälle bleiben etwas besonderes.
Ich war froh, dass die Angehörigen, eine Nichte und ihr Mann, die Todesnachricht gefasst aufnahmen. Es bleibt nicht viel zu sagen. Man druckst herum und kommt schnell auf die Formalitäten zu sprechen.
Nachdem ich die Angehörigen informiert hatte, bestellte ich über den ärztlichen Bereitschaftsdienst jemanden für die Leichenschau. Der Arzt, der kam, machte einen lockeren Eindruck. Er mochte so alt sein wie ich (Mitte vierzig - er bestätigte dies im Verlaufe seines Besuchs), hatte einen Pferdeschwanz und sah insgesamt nicht besonders ärztlich aus. Ich hätte mir gut vorstellen können, mit ihm ein paar Bier trinken zu gehen.
Nachdem wir bei dem Toten waren, stellte er die Papiere aus. Der Verstorbene wurde Achtzig. "Das ist bereits die Generation meiner Eltern", sagte ich, "Gott sei dank sind die noch rüstig". "Weißt Du", entgegnete der Arzt, "es wird unheimlich, wenn ich bei meiner notärztlichen Tätigkeit immer mehr Todesfälle erlebe, die etwa mein Jahrgang sind"; und er erzählte meiner Kollegin und mir, wie man auch in "unserem Alter" sterben könne. Bei Erkrankungen wie z.B. Demenz mache man am Besten selbst Schluss, solange man noch könne, sagte er, was mit gewissen Mittelchen ganz einfach ginge; und er nannte uns einige tödliche Medikamentencocktails. Meine Kollegin sagte lachend: "Nein, das ist nichts für mich, ich habe Kinder, die will ich noch aufwachsen sehen." Dieser Arzt war wirklich eine Type. Mit einer Flasche Whiskey und Paracetamol könne es auch klappen, sagte er, oder einen Liter destilliertes Wasser trinken. Während er die Papiere für den Toten ausfüllte, erklärte er uns mannigfaltige Methoden, wie man sich ins Jenseits befördern könne, und wie besser nicht.
"Noch Fragen?" sagte er, als er alles gefaltet in einen Umschlag steckte. "Nein", antworteten meine Kollegin und ich fast wie aus einem Munde. Seine Ausführungen hatten uns prächtig amüsiert. Als er gegangen war, tranken wir einen Kaffee - die Nacht war noch jung.
creature - 22. Okt. 08, 07:02

du bist ja direkt am puls des lebens, und auch noch wenn er aufhört.
das schafft nicht jeder!

bonanzaMARGOT - 22. Okt. 08, 07:10

Hallo Frühaufsteher,

ich bin gerade vom Dienst gekommen, diesmal ohne Todesfall im Gepäck.

Es ist nicht immer leicht, die "fauligen" Seiten des Lebens zu sehen. Man muss die Menschen ohne Unterschied ins Herz geschlossen haben und sollte mit den Füssen fest auf der Erde stehen.

Dir einen schönen Tag.
Rot_farbedermacht - 22. Okt. 08, 07:31

Diese Form eines Arztbesuches hätte mich auch interessiert. Auch ganz ohne den Toten, den es dabei zu begutachten galt. Wenn man sich auf das Leben einlässt, muss man auch im Auge haben, dass es zwangsläufig irgendwann endet.
Schlaf gut :-)

bonanzaMARGOT - 22. Okt. 08, 08:05

Danke, farbedermacht,

Dir einen guten Arbeitstag.
Aurisa - 22. Okt. 08, 07:48

Ein Liter destilliertes Wasser trinken...?
Gut zu wissen... so für den Fall der Fälle...

bonanzaMARGOT - 22. Okt. 08, 08:04

Lieber nicht, Aurisa,

da stirbt man nach Aussage des Arztes ziemlich häßlich.
bonanzaMARGOT - 24. Okt. 08, 16:49

destilliertes wasser zu trinken,

ist, wenn ich die ergebnisse meines google-ausflugs zusammenfassend interpretiere, wahrscheinlich doch nicht tödlich. im gegenteil wird destilliertem wasser stellenweise sogar heilwirkung angedichtet.
auf einen selbstversuch habe ich trotzdem keine lust.

wir haben eine altenheimbewohnerin, die regelrecht wassersüchtig zu uns kam. sie trank bestimmt zwei kästen am tag. außer dass sie bett und zimmer beim pinkeln unter wasser stellte, passierte nichts.
ich denke, dass man sich bestimmt tottrinken kann, wie man sich auch totfressen kann - je nach konstitution.

als jugendlicher trank ich bei einem wettsaufen acht bier in einer stunde. mir gings denkbar schlecht danach. aber ich überlebte es problemlos.

es gibt ein durch destillation hochprozentiges wässerchen, das bestimmt schneller zum tod führt ...
irie_ways - 14. Nov. 08, 22:03

Jep. Destilliertes Wasser ist nicht tödlich. Jedenfalls nicht ein Liter. Da muss man schon wesentlich mehr trinken damit das größeren Schaden anrichtet. Ich bezweifel allerdings, dass man soviel destilliertes Wasser trinken kann, dass man daran stirbt. Da platzt man vorher. :p

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