Der vergebliche Kampf


Ein stetes Ringen zwischen Form und einem Inhalt, der sich befreien will. Ich fülle mir Wein in ein Glas und überlege, was wohl sein wird, wenn ich mich als Form auflöse. Dies wird unwiederbringlich der Fall sein. Womöglich hat es schon begonnen. Der Prozess des Alterns ist nichts anderes als eine langsame Auflösung der Form. Tag für Tag kämpft man dagegen an. Als ließe sich da etwas aufhalten.
Ich trinke aus dem Glas und spüre die Nebel des Weins in mir. Ich kämpfe um die Inhalte der Worte, die ich in den Computer tippe. Wann fing es an? Wann wurden meine Seele, mein Herz und mein Bewusstsein geformt? Eine (uns)innige Umarmung von Vater und Mutter und mein Schicksal nahm seinen Lauf. Ganz normal. Jeden Tag werden zig neue Menschen gezeugt. Viele Gläser füllen sich mit Wein…
Ich wuchs wie das Universum aus dem Nichts heran. Nach neun Monaten war die erste große Hürde geschafft, und ich hatte von nichts eine Ahnung. Das heißt, ich war auf der Welt. Am erschreckendsten war das Licht.
Mein Geist formte sich in dem Maße, wie ich die Gestalten um mich herum wahrnehmen konnte, darunter auch meine eigene Gestalt. Wein floss unaufhörlich nach. Woher nur? Wo ist die Quelle von alldem? Was machte mich zu dem Mann, der ich heute bin? Wer schreibt diese Worte?
Nein, ich befinde mich nicht in einer Identitätskrise. Mich wundert es nur, dass sich so wenige Menschen ähnliche Fragen stellen. Was macht ihr Selbstbewusstsein aus? Es ist doch Wahnsinn, wie leicht und selbstverständlich sich all die Menschen um mich herum mit den ihnen vorgelegten Formen/Gefäßen identifizieren, sei es Familie, Religion oder Nation…
Ich wusste nie, wohin ich gehöre. Ich fühlte mich immer fremd auf dieser Welt. Die angebotenen Zugehörigkeiten erschienen mir äußerst suspekt. Die meisten jedenfalls. Ich wurschtelte mich durch. Ich passte mich an. Ohne soziale Kontakte und Liebe wäre ich eingegangen. Immerhin, hier verband mich etwas Grundlegendes mit meinen Mitmenschen. Wir tranken offenbar denselben Wein, nur aus unterschiedlichen Gläsern. Scheiß auf die Gläser!
Heute bin ich mir nicht mehr sicher. Kann die Form so sehr über den menschlichen Geist bestimmen? Offenbar gibt es auch Unterschiede in der Güte des Weins. Die Realität zeigt mir, dass es alles gibt: eine wertige Verpackung mit billigem Inhalt ebenso wie eine 0815-Verpackung mit wertigem Inhalt. Alle Variationen, die man sich denken kann, - und man selbst ist nur eine davon, die aus ihrer Einbildung lebt. Wer weiß schon, wie er von den anderen wahrgenommen wird?
Ich wollte immer glauben, dass wir Menschen alle gleich wertvoll sind. Wie`s aussieht, gibt es aber dazu nur eine Wahrheit: unsere Ethik wird von der vorherrschenden Macht bestimmt. Heute der Materialismus, der wahrscheinlich auch das Ende der Fahnenstange in der Menschheitsgeschichte darstellt. Der Materialismus ist in meinen Augen eine sehr hässliche Form. Aber gut, es kommt bekanntlich drauf an, was drin steckt.
Es ist ein stetes Ringen zwischen Form und Inhalt*. Ich bin auf der Suche nach der richtigen Form für meinen Inhalt. Ich führe einen vergeblichen inneren Kampf darum.



* Die Form lässt sich leichter ändern als der Inhalt - oder?

iGing - 21. Mai. 18, 23:45

Wie kommst du denn darauf, dass sich nur wenige Menschen solche Fragen stellen? Die meisten Menschen, die ich kenne, stellen sich solche Fragen oder haben sie gestellt.

bonanzaMARGOT - 22. Mai. 18, 05:01

möglicherweise im stillen kämmerchen.
oder nicht besonders vehement. jedenfalls aus meiner beobachtung/wahrnehmung und meinen erfahrungen.
sonst wäre doch die große masse nicht derart manipulierbar durch die rattenfänger (in gesellschaft, politik und religion). man wäre insgesamt (selbst)kritischer und im geiste aufgeklärter. zumindest würde ich mir das wünschen.

oder irre ich mich? ich lasse mich gern vom gegenteil überzeugen. vielleicht hast du einen besonders ausgewählten bekanntenkreis, iging.
iGing - 22. Mai. 18, 23:44

Keineswegs.
Dass jemand etwas sucht, macht ihn natürlich auch anfällig für Manipulationen, wenn er aber darauf aus ist, es wirklich zu finden, nimmt er davon wieder Abstand, lernt umzudenken, orientiert sich neu. Es genügt vollauf, wenn er das in seinem Inneren tut.
bonanzaMARGOT - 23. Mai. 18, 05:50

ich denke schon, dass sinn- und lebensfragen auch konsequenzen für das reale leben haben sollten. wie diese ausfallen, ist sicher individuell. ich widerspreche dir, dass es reicht, diese gedanken ausschließlich in seinem innern hin- und herzuwälzen. bei mir ist es jedenfalls so, dass meine fragen und gedankenwelten nach draußen drängen. so wie ich denke, könnte ich z.b. nie mitglied der kirche sein. auch heiraten kommt nicht in frage. und so gibt es noch ein paar andere sachen, bei denen meine innere auseinandersetzung nach außen hin sichtbar wird. natürlich sind da auch jene äußeren gegebenheiten und zwänge, die mir kompromisse abnötigen.
viele meiner mitmenschen leben nach einem plan, den ich nicht nachvollziehen kann. und wenn ich sie frage, warum sie es so machen und nicht anders, bekomme ich in etwa antworten wie: alle machen es so... das macht man eben so... das gehört dazu... ich habe mir darüber nie gedanken gemacht... es wird so erwartet... wenn man im leben etwas werden will... macht mir spaß...
tiefere einsichten oder zeugnisse einer echten inneren auseinandersetzung mit dem dasein/leben höre ich selten.

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