Zwischenhalt


Dieser Winter wird härter, als ich ihn mir vorstellte – wie eine schwere Geburt mit unsicherem Ausgang… Dabei hat sich gar nicht viel getan. Berlin blieb Berlin. Die Menschen in den U-Bahnen und auf den Straßen dieselben. Der Blues zuhause unverändert. Und ich sowieso.
Auch der Winter wird nur ein Winter sein. Wie immer Weihnachten und Silvester und das Getöns darum.
Menschen sterben und werden geboren. Das Rad der Zeit walzt alles nieder. Die nächsten Generationen machen sich auf den Weg, um wiederum platt gemacht zu werden. Ich hänge verzweifelt an einer Liane, die in den Himmel reicht. Wie lange noch? frage ich mich.
Der Statist tritt vor und wird vom Regisseur zurechtgewiesen. Geh zurück in deine Reihe, brüllt der, wir brauchen hier keine Renegaten! Das Schauspiel ist ausgemachte Sache – Abtrünnige sind des Teufels! Ja, so kommt mir die Welt, seit ich denken kann, vor: als ausgemachte Sache. Selbst der Aussatz gehört dazu. Für die Dramaturgie ganz wichtig, dass es Nein- und nicht nur Ja-Sager gibt.
Ist die Welt nicht wahnsinnig, dann sind zumindest wir es. Oder wenigstens ich.
Der beginnende Tag blinzelt mir aus der Gegenwart zu. Er schickt mir arglos ein paar Sonnenstrahlen der Hoffnung. Erde, Sonne und Milchstraße machen ihren Job gut. Sie haben weder Boss noch Regierung. Sie brauchen weder Schule noch Fortbildungen und dürfen sein, was sie sind… ähnlich wie Kängurus, Maulwürfe oder Schnabeltiere. Warum zum Teufel wurde ich als Mensch geboren?
Wieder brüllt der Regisseur: Zurück in die Reihe! Und nach einer kurzen Pause etwas sanfter: Siehst du denn gar nicht, was du mit deiner destruktiven Haltung bewirkst? Du tust den Menschen weh, die dich lieben. Du zerstörst damit deine eigene Lebensperspektive.
Tatsächlich habe ich des Öfteren ein schlechtes Gewissen. Ich darf nicht sein, wie ich bin. Was denken die anderen Statisten des Lebens, denen ich auf der Straße, im Supermarkt oder in der U-Bahn begegne, was sie sind? Worin liegt ihre Motivation, in der Reihe zu bleiben…, oder aber auszuscheren?
Wie egoistisch darf man sein? Welchen Maßstab soll man dafür anlegen? Ich verstehe das Schauspiel um mich herum nicht. (Ich habe Angst.)

Im kleinen Konferenzraum der Klinik treffen sich die Tumordokumentarinnen (und ich) zur zweistündigen Besprechung. Auf der Tagesordnung steht hauptsächlich die Vereinheitlichung der Eintragungen ins Dokumentationssystem. Ich mache mir Notizen, soweit ich überhaupt die Inhalte verstehe. Es geht um ein möglichst effektives Arbeiten. Unterschiedliche Sichtweisen und Kompetenzen reiben sich auf der Suche nach einer adäquaten Lösung. Man scheitert an den Vorgaben der Software in Verbindung mit der Komplexität der Materie. Hinzu kommen Probleme im Organisatorischen und in der Kommunikation. Im Hintergrund steht (stumm) die Finanzierbarkeit… Ich fühle mich zurückerinnert an die Dienstbesprechungen im Altenheim. Tausend Jahre später werden wir noch dieselben Probleme wälzen, weil es letztlich nur ums Geld geht.
Mir brummt bald der Schädel vom Zuhören.
Der letzte (leider nicht) kurzgehaltene Tagesordnungspunkt Unterschiedliches wird für mich (und einige andere) zur Bewährungsprobe. Danach in einer Kreuzberger Gaststätte noch Weihnachtsfeier. (Natürlich muss man selbst bezahlen.) Ich sage, dass ich bereits verplant bin und gehe hinaus in die Nacht, die im Winter den frühen Abend annektiert.

AlterRettich - 08. Dez. 16, 12:11

Hasts nicht einfach im Moment. Klingt aber so, als wärst du total allein und deinen Sorgen ausgeliefert. Soviel ich verstehe, ist das nicht der Fall. Ich steck in der Scheiße bis über die beiden Ohren und kann mich trotzdem über kleine Sachen des Lebens freuen. Große habe ich leider nicht - im Gegensatz zu dir. Tschuldigung.
Hoffe, du fasst das nicht als Vorwurf auf und findest mehr Positives in deinem jetzigen Leben. Die Liebe allein ist schon was wert, kannst dem Alten Rettich glauben. Meine große Liebe habe ich Idiot verpeilt.
Einen schönen Tag noch!

bonanzaMARGOT - 08. Dez. 16, 12:34

Ich will meine Worte nicht als Gejammere missverstanden wissen. In meinem Leben ging es mir schon viel schlechter.
Ich gebe hier lediglich wieder, was ich zur Zeit empfinde. Manchmal kommt zur Jetzt-Situation die ganze scheiß Rechnung des Lebens hinzu... Diese Rechnung wurde mit den Jahren nicht geringer.
Nein, ich bin nicht ganz allein. Ich habe einen Menschen an meiner Seite, der mich sehr liebt. Ich schäme mich dafür, dass ich so larmoyant erscheine. Meine Partnerin hat was besseres verdient.

Ja, es half mir auch immer, mich über die kleinen Sachen zu freuen..., aber auch dieser Trost ist irgendwann ausgelutscht.
SpeziellesKänguru - 08. Dez. 16, 21:25

lass mich bitte selbst beurteilen, was ich verdient habe und was nicht. und du brauchst dich nicht zu schämen! ich empfnde großen respekt dir und dem gegenüber, was du alles machst.

p.s. es gibt kängurus, maulwürfe und schnabeltiere, die zur arbeit hüpfen, kriechen bzw. rudern. noch nie gesehen?
bonanzaMARGOT - 09. Dez. 16, 06:15

nur jede menge kaninchen im park, aber ob die zur arbeit hoppeln... ich weiß nicht.
AlterRettich - 08. Dez. 16, 12:59

Oje, du hast meinen Kommentar beantwortet, bevor ich ihn fertig geschrieben habe. Sorry nochmal, wollte nicht klugscheißen.

bonanzaMARGOT - 08. Dez. 16, 13:09

Ich verlor einige Lieben im Leben, von denen ich annehme, dass sie groß waren.
Diese Gefahr besteht immer. Von beiden Seiten. Man sollte sich nicht allein die Schuld geben.
Keine Sorge: ich sehe dich nicht als Klugscheißer an. Du bist viel zu nett.
Da bin eher ich ein Klugscheißer.
AlterRettich - 08. Dez. 16, 14:25

Danke. Aus der Perspektive eines 56-jährigen Rettichs gibt es im Leben nur eine riesengroße Liebe. Die andren können auch groß sein. Aber doch nicht so riesig.
Lieben Gruß!

bonanzaMARGOT - 08. Dez. 16, 14:35

rückblickend mag das so erscheinen.
in der damaligen zeit war die liebe, die ich längere zeit hatte, immer die größte - wobei ein paar wenige dieser lieben hervorstechen.
meine jetzige partnerin erscheint mir als sehr großes glück und riesengroße liebe! ich wünsche mir nichts mehr, als mit ihr noch viel zeit zu verbringen.

von deinen liebesverhältnissen habe ich keine ahnung, alter rettich. eigentlich dachte ich, du wärest privat nicht gerade glücklich, nach dem, was du ab und zu schreibst.
was soll ich dann unter deiner einzigen riesengroßen liebe verstehen?
AlterRettich - 08. Dez. 16, 14:41

Grad deswegen bin ich so unglücklich, weil ich vor vielen vielen Jahren diese Liebe verlor. Die kam mir schon damals riesengroß vor, jetzt immer noch.

bonanzaMARGOT - 08. Dez. 16, 14:47

traurig. ich sagte schon, dass ich auch... einige lieben verlor auf der wegstrecke zum jetzt. ich musste sie vergessen. oder das leben vergaß sie für mich. trotzdem sind sie noch vorhanden - sie begleiten mich...

wieso hast du sie verloren, deine große liebe?
was macht eine liebe noch sinn, wenn man sie nicht erreichen kann?
AlterRettich - 08. Dez. 16, 21:01

Ja, sehr traurig. Daran waren hauptsächlich meine Egoismus und Alkoholkosum schuld. War wie gesagt total bescheuert von mir.
Klar lebe ich in Hier und Jetzt, aber ziemlich lieblos.
Grüße in deinen Abend!

bonanzaMARGOT - 09. Dez. 16, 06:11

ja, der alkohol ist eine heikle sache... in beziehungen und freundschaften, vor allem wenn die partnerin eher abstinent lebt.
der alkohol kann in die einsamkeit führen.

du bist kaum älter als ich und hast noch gute chancen auf eine liebe, die für dich passt.
oft passiert es, wenn man gar nicht damit rechnet.
AlterRettich - 09. Dez. 16, 06:31

Obwohl ich nie abstinente Partnerinnen hatte, ist das Thema Alkohol für mich abgeschlossen.
Leider habe ich einen anderen Klotz am Bein, der eine neue Liebe kaum möglich macht.

bonanzaMARGOT - 09. Dez. 16, 06:39

ist ja auch das gesündeste, den alkohol zu meiden.

was für ein klotz muss das sein?
AlterRettich - 09. Dez. 16, 06:42

Eine psychisch kranke Lebensgefährtin.

bonanzaMARGOT - 09. Dez. 16, 06:49

... der du dich verpflichtet fühlst.
wenn es nicht mehr auszuhalten ist, sollte man sich trennen. ich weiß, das ist leicht gesagt aber die einzig sinnvolle konsequenz. es verhält sich ähnlich wie beim alkoholiker und der co-abhängigkeit.

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