Montag, 31. Dezember 2018

Das Lächeln


Auf der Zugfahrt von Rostock zurück nach Berlin hatte ich ein Erlebnis, das mir nicht aus dem Sinn geht. Ich will es aufschreiben, solange die Erinnerungen daran noch relativ frisch sind. Schließlich verfremdet die Zeit alles, angenehme wie unangenehme Ereignisse. Die Erinnerungen daran verblassen und werden ungenau. Wir neigen dazu, die Lücken mit Erfundenem zu füllen und auszuschmücken. Wir zimmern uns unsere Erinnerungen nach Gutdünken zurecht, vor allem jene, in denen wir schlecht abschneiden. Das ist allzu menschlich. Mit der Wahrheit halten wir Menschen es nicht so. Oft steht Aussage gegen Aussage. Ein Ringen um die Wahrheit ist dann sinnlos. Gerade in zerstrittenen Beziehungen erlebt man oft völlig konträre Sichtweisen, wie es zum Zerwürfnis kam. Die Frau wirft dem Mann vor, dass er sie nicht liebte und vernachlässigte; und der Mann wirft der Frau Lüge und Betrug vor. Shit happens. Als Gehörnter bleibe ich freilich bei meiner Sicht der Dinge. Was erzählt die Frau da für einen Unsinn?! Sie will nur vor sich selbst gut dastehen.
Ich ging die Rückreise gemütlich an. Im Rostocker Bahnhof besorgte ich mir drei Dosen Gin Tonic. Der Regionalexpress stand bereits eine halbe Stunde vor der Abfahrt auf dem Bahngleis. Ich ließ mich mit meinem Faltrad im noch menschenleeren Fahrradabteil nieder. Langsam trudelten immer mehr Reisende ein, darunter auch ein junges Paar mit Kind. Unwillkürlich beobachtet man seine Mitreisenden und stellt zu ihnen Überlegungen an. Der kleine Junge mochte 4-5 Jahre alt sein, die Eltern Mitte-Ende Zwanzig. Sie setzten sich mir gegenüber. Was mir gleich auffiel, dass zwischen Mann und Frau zwei Plätze Abstand blieben. Als der Zug anruckte, war er voll besetzt mit Fahrgästen. Ich hörte über Ohrstöpsel Musik und trank Gin Tonic. Eine gute Kombination, wie sich herausstellte. Ich entspannte bei den Tönen meiner Lieblingslieder. Ich fühlte mich wie in einem anderen Raum. Immer wieder blickte ich zu der jungen Frau hinüber. Der Vater spielte inzwischen hingebungsvoll mit dem Kind, während die Mutter* stoisch auf ihrem Sitz ausharrte. Hörte sie auch Musik und wirkte deswegen so abwesend? Ihre langen Haare verdeckten womöglich das Kabel. Sie schaute ohne wesentliche Gemütsregung stur geradeaus. Nach Familienharmonie sah das nicht aus. Ich zweifelte schon, ob sie überhaupt zusammengehörten. Aber sie waren doch zusammen hereingekommen. Die verschiedensten Erklärungen kamen mir für das merkwürdige Verhalten in den Sinn. Der Sohn schien des Vaters ganzer Stolz zu sein. Daran gab es nichts zu deuteln. Die beiden waren ein Team. Vielleicht hatte die junge Frau Depressionen oder andere psychische Probleme. Oder Mann und Frau waren einfach nur zerstritten. Vielleicht war sie ein Geist, und nur ich sah sie. Blass war sie. Ich spürte ihre Einsamkeit und entwickelte mehr und mehr Mitgefühl mit ihr. Ich nahm sie in Gedanken zu mir in meinen Raum, und sie konnte meine Musik hören und fühlen, was ich fühlte. Nach ca. eineinhalb Stunden Fahrt packten Vater und Sohn ihre Sachen zusammen. Beim nächsten Halt würden sie aussteigen. Gespannt blickte ich auf die Frau. Ich konnte nicht anders und lächelte sie an. Und sie lächelte zurück, – überglücklich, wie mir schien. Mein Gott, wie mich ihr Lächeln berührte! Der Zug hielt, und die Frau trottete Vater und Kind hinterher auf den Bahnsteig. Ihr glückliches Lächeln begleitete mich auf der weiteren Zugfahrt. Ich genoss meine Musik und den Rest Gin Tonic, bittersüß.
Nun weiß ich nicht, ob sich alles haargenau so abspielte, wie ich es hier schilderte. Sicher hatte jeder meiner Mitreisenden einen anderen Blick auf die Szene. Für mich lag Magie in dieser Begegnung: Zwei einsame Herzen, die kurz zueinanderfanden, um sogleich wieder auseinanderzudriften. Die Wahrheit liegt im Auge des Betrachters, wie man so schön sagt. Ich liefere damit eine kleine Weihnachtsgeschichte nach. (Scheiß Sentimentalität.)




*ich schätze schon, dass sie die Mutter war, weil das Kind ihr ähnlicher sah als dem Vater

TV-Tipp

"Spiel mir das Lied vom Tod", 22 Uhr, RBB Brandenburg

Deringer


Es gibt Leute, die nach außen den Bunten Hund markieren, aber guckt man hinter die Fassade, dann entdeckt man spießige Eintönigkeit. Ich wollte noch nie anders erscheinen, als ich bin. Nicht mal zu Fasching. Am ehesten kokettiere ich noch mit der Rolle des lonesome Cowboys, des Antihelden oder Losers. Mir liegen Understatement und Bescheidenheit im Auftreten mehr als eine große Klappe und Affektiertheit. Darum kann ich eher mit Clint Eastwood als mit Eddy Murphy.
Vielleicht bin ich ebenso ein Spießer, halt mit ein paar verqueren Ansichten… Vielleicht ist meine Antihaltung vielen Dingen gegenüber nur Mache. Es ist nicht sicher, ob ich mir darüber selbst im Klaren bin. Seit ich denken kann, grabe ich in meinem Bewusstsein, um Antworten auf die vielen Fragezeichen zu finden. Inzwischen habe ich es fast aufgegeben.
Ich sitze im Schaukelstuhl und schaue mir den Blödsinn einfach nur noch an. Ab und zu ein Bier und den Deringer in der Hosentasche, – zur Sicherheit. Man weiß nie. Von mir aus sollen sich die Großkotze die Welt unter sich aufteilen. Hauptsache, sie stören meine Kreise nicht. Es ist doch so: Man wird ins Leben gefickt, ob es einem gefällt oder nicht. Und nach einer Weile stellt sich heraus, dass man wie eine Wurst in einen Schlauch gepresst und feinsäuberlich abgepackt wird. Die größte Freiheit genoss man im Uterus. Nicht, dass ich mich dahin zurückwünsche – denn dann hätte ich ja noch alles vor mir. Den ganzen Quatsch, der sich Leben nennt. Scheiß drauf.
Da sitze ich und wippe in meinem Schaukelstuhl wie Clint Eastwood, den Deringer griffbereit in der Hosentasche, aber es kommt eh kein Schwein vorbei…

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