Brasko und die geklauten Minuten
II
„Kennen Sie den größten Schatz zwischen Himmel und Erde?“
„Gesundheit und ein langes Leben, schätze ich…“
„Freilich, Mr. Brasko, fraglos. Ich meine aber etwas anderes, was wir gemeinhin vollkommen verkennen.“
Brasko genehmigt sich einen großen Schluck Bier. Der Sandmann und er sitzen im Halbschatten unter einer großen Pergola. Der Biergarten liegt am Rande einer größeren Parkanlage der Großstadt. Vis-à-vis eine Hochbahntrasse, auf der zitronengelbe Züge in aller Regelmäßigkeit vorbeirattern, um schließlich im Häusermeer zu verschwinden. Gewöhnlich tummeln sich viele junge Menschen und Familien auf dem Parkgelände, nehmen ein Sonnenbad, üben sich in Akrobatik oder spielen ausgelassen Frisbee, Basketball… Bei der aktuellen Hitzewelle ist der Bewegungstrieb allerdings gemindert, die Menschen suchen den Schatten und die Erfrischung. Brasko genießt den Augenschmaus, der sich ihm darbietet. Er liebt die schönen Körper und frischen Gesichter. Er liebt die Vielfalt der menschlichen Erscheinung. Er liebt interessante Menschen.
„Ist Ihnen klar, wie einzigartig jede Minute unserer Existenz ist?“ fährt der Sandmann in seiner Rede fort, „und wie kostbar – wie ungeheuer kostbar?! Denken Sie an die schönsten Momente Ihres Lebens, wie schnell sie unwiederbringlich vorbei sind. Es bleiben nur Fotos und Videos - immer blasser werdende Erinnerungen. Alles verschwindet auf Nimmerwiedersehen im großen Schlund der Vergangenheit. Wie nun, wenn man das ein oder andere konservieren oder zurückholen könnte, nicht nur als Bild- oder Videodatei, sondern 1:1 durch ein Wundermittel wiedererlebbar - vollkommen authentisch? Wäre es nicht fantastisch gerade in schlechten Zeiten, sich zu den besten Minuten seines Lebens quasi zurückzu…beamen, zurück zu den glücklichsten Momenten in der Liebe, zurück zu seinen größten Erfolgen…?“
Brasko starrt in Gedanken versunken auf eine Frau, die am Getränkestand ansteht. Eine interessante Erscheinung. Sie hat die richtige Mischung aus Natürlichkeit und Ästhetik, leicht verdorben in ihrer Haltung, aber ohne vulgär zu wirken.
„Ja, Fantastisch!“
„Nicht wahr?! Und nun halten Sie sich fest, dieses Wundermittel existiert! Keine Alchemie, alles wissenschaftlich fundiert. Ich weiß, es ist schwer zu glauben. Aber ich habe es probiert! … Mr. Brasko?“
„Ja. Äh, entschuldigen Sie, Mr. Sandmann. Es klingt wirklich unglaublich, was Sie mir da berichten. Eine Essenz, die uns längst Vergangenes vollkommen authentisch wiedererleben lässt – habe ich Sie da richtig verstanden?“
„Absolut, absolut. Aber können Sie sich auch vorstellen, was das bedeutet?“
Brasko registriert, dass die Frau seines Interesses zwei Bier zu einem wartenden männlichen Gast trägt. Sie stellt die Bier ab und küsst den Mann. Brasko wäre gern an seiner Stelle.
„Na ja, ich denke, falls zutrifft, was Sie sagen, dann wird daraus ein Riesengeschäft.“
„Sehen Sie, und das ist der springende Punkt. Man klaute mir 10 Minuten! Die wichtigsten Minuten meines Lebens! Unglaublich kostbar in meinen Augen, und außerdem blätterte ich ein kleines Vermögen dafür hin. Mr. Brasko, Sie sind meine letzte Hoffnung. Bringen Sie mir diesen Schatz zurück! Ich bitte Sie eindringlich…“
Brasko fasst die Sache für sich gedanklich zusammen: Irgendjemand braut in geheimen Labors ein Wundermittel, das einem Vergangenes angeblich wieder 1:1 erleben lässt und verscheuert diese Tinktur an leichtgläubige Superreiche zu einem horrenden Preis.
„Okay, Mr. Sandmann, ich bin Ihr Mann, aber vorher liefern Sie mir bitte einen Beweis, dass dieses Wundermittel auch wirklich funktioniert.“
„Kein Problem – ich organisiere das. Überlegen Sie sich in der Zwischenzeit, an welcher Minute Ihres Lebens Sie es testen wollen. Sie werden überrascht sein.“
bonanzaMARGOT
- 05. Aug. 18, 13:47
- boMAs Gedichte und Texte