Freitag, 12. Dezember 2014

Lüften


„Hier ruht in Gott … Hanna G. ... aus Hotzenplotz, Sudetenland … 1876 – 1956“
Ich öffne das Fenster zum Lüften und blicke auf den schwarzen Granit des Grabsteins, den der frühere Hausbesitzer zurückließ. Er kam zum Vorschein, als der neue Besitzer das Grundstück vom Dickicht befreite. Sicher wurde die Grabstelle vor Jahren aufgelöst und der Stein mitgenommen. Ich rechne kurz im Kopf und komme zu dem Schluss, dass es sich hierbei um die Urgroßmutter handeln solllte. Sie starb, als dieses Haus gebaut wurde.

Über mir wird gebohrt und gehämmert. Nachdem gestern der Verputzer noch mal bei mir war, hoffe ich, dass ich vorerst keine Handwerker mehr in der Wohnung haben werde.
Ein junges Ehepaar kaufte diese „alte Burg“. Nächstes Frühjahr will die Familie einziehen. Sie haben zwei Kleinkinder. Das eine dürfte erst in diesem Jahr das Licht der Welt erblickt haben. Sie waren wegen des Mietvertrags bei mir. Ein viertel Jahr ist das schon wieder her. Seitdem sah ich nur noch ihn an den Wochenenden. „Im nächsten Leben werde ich Handwerker“, sagte er mir nicht ohne Sarkasmus in der Stimme. Er ist Hauptschullehrer. Er wolle sich hier abarbeiten, hatte seine Frau damals lächelnd gesagt, das Baby wiegend auf dem Arm.
Nach den ersten Sanierungsarbeiten schälte sich immer deutlicher heraus, was man wohl in der ersten Kaufeuphorie übersah oder nicht sehen wollte - obwohl eine Architektin begutachtend und beratend zur Seite stand: Dieses Haus ist eine Bruchbude, und die Sanierung wird wesentlich teurer werden als geplant. „Dafür bekamen sie es fast geschenkt“, sagte der frühere Hausbesitzer, als ich ihn vor Tagen in der Stadt traf. Er ist froh, dass er dieses Erbe seiner Großeltern los ist.
Am letzten Wochenende begenete ich dem Hauptschullehrer wie gewohnt. Sein Gesicht war grau und müde. Er schlich mit dem Fotoapparat ums Haus. Wir besprachen kurz die für mich wesentlichen Dinge. Ich sah ihm seine Verbitterung deutlich an.
Nachdem ich nun neue dichte Fenster habe, muss ich öfter lüften als früher. Er legte es mir nahe. Sonst käme der Schimmel. Selbstverständlich, meinte ich. Er tat mir leid. Hoffentlich zerbricht seine junge Familie nicht an diesem ganzen Scheißdreck ...

Ich stehe am geöffneten Fenster und schaue auf den schwarzen Granit. Er lehnt am Mäuerchen der Grundstücksbegrenzung. Kühle erdige Luft durchströmt die Wohnräume. Ich amte tief durch.





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