Donnerstag, 18. September 2014

Nächtlicher Besuch


Die Tochter einer Bewohnerin ruft mich im Nachtdienst an. Sie fragt, warum ihre Mutter nicht ins Krankenhaus kam. Ich berichte ihr, was ich über den Vorfall weiß. Es ist meine erste Nacht. Vor drei Tagen stürzte die neunzigjährige Frau. Ein Schlaganfall war nicht auszuschließen. In Absprache mit den anderen Angehörigen – die alte Frau hat noch eine Tochter, welche die Betreuerin ist, und auch einen Sohn - ; also in Absprache mit diesen Angehörigen und dem Hausarzt wurde von einer Krankenhauseinweisung abgesehen. Ihre Mutter solle nicht noch gequält werden und in ihrer vertrauten Umgebung sterben, sagte die Tochter, ein Patiententestament würde bei unserem Heimleiter vorliegen. Nun bekomme ich diesen Anruf von ihrer Schwester, die Ärztin ist, und nach ihrer Mutter fragt, die es ungeheuerlich findet, dass ihre Mutter nicht ins Krankenhaus kam. Mir ist schnell klar, dass die Kommunikation zwischen den Schwestern schwer gestört sein muss. Ich kenne sie beide nicht. Ich sage, dass ihre Mutter schlafe, und dass es ihr den Umständen entsprechend gut gehe. Aus meiner Sicht gäbe es momentan keinen Handlungsbedarf.
Wenig später klingelt das Telefon, und ich habe die andere Tochter am Apparat. „Auf keinen Fall ins Krankenhaus!“ sagt sie mir. Ich höre mir geduldig ihre aufgeregten Ausführungen zu ihrer Schwester an, die sich jahrelang nicht kümmerte und sich jetzt plötzlich einmische. Ich bekunde mein Verständnis und beruhige sie, dass ich ihre Mutter nicht einfach ins Krankenhaus schicken werde. „Sie können mich jederzeit anrufen“, sagt sie.
Die alte Frau schläft indes wie ein Stein. Eine Kochsalzlösung läuft ein. Die Geschichte beschäftigt mich, aber nebenbei habe ich über vierzig andere Bewohner nächtlich zu betreuen und pflegen.
Es ist Mitternacht, als die Türglocke geht. Erstere Tochter und ihr Mann wollen die Mutter sehen. Ich führe sie zum Zimmer. „Es ist schwierig, hierher zu kommen“, sagen sie. „Ja“, meine ich, „das Altenheim liegt etwas abgelegen.“ Zu Dritt stehen wir am Bett der alten Frau. Die Tochter erwähnt wiederholt, dass sie und ihr Mann Ärzte seien. Ich bitte sie, ihre Mutter schlafen zu lassen. Der Mann hat einen Fotoapparat dabei. Ich rufe die andere Tochter an und informiere sie über den nächtlichen Krankenbesuch. „Wollen sie mit ihrer Schwester sprechen?“ Nach wenigen knappen Sätzen reicht sie mir das Telefon zurück.
Ich bin ziemlich genervt – lasse mir aber (hoffentlich) nichts anmerken. Ein paar Klingeln von Bewohnern lenken mich ab. Schließlich verlässt das alte Ärzteehepaar die Szene. Sie sehen ein, dass jetzt nichts zu machen ist. Ich wünsche ihnen einen guten Nachhauseweg.

Die Nacht geht in die zweite Runde. Business as usual: eine Bewohnerin, die sich mit Kot verschmiert, ein verpinkeltes Bett, ein Mann mit Chorea Huntington, der durch sein Zimmer poltert und gefüttert werden will, ein paar zu wechselnde Windeln ...

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