Während meiner Nachtdienste im Winter lebe ich im Halblicht. Morgens fahre ich im Dunkeln nach Hause, und wenn ich am Nachmittag aufwache, dämmert es bereits wieder. Nach vier Nächten wache ich an einem sonnigen Sonntag auf. Ich freue mich auf die freien Tage und sollte guter Laune sein. Als ich den Rollladen hochziehe, blinzle ich verschlafen in die Wintersonne. Der ganze Raum ist auf einen Schlag ausgeleuchtet. Trilliarden Staubpartikel tanzen in der Luft. Meine Haut ist bleich. Erstmal einen Kaffee trinken, denke ich. Ich traue mich noch nicht in den Spiegel zu schauen. Dafür sehe ich eine dünne Staubschicht auf allen Oberflächen: auf dem Schreibtisch, dem Desktop, dem Dielenboden, auf den Regalen ... . Während das Kaffeewasser kocht wische ich mit der flachen Hand über einige Flächen und sammele Staubflocken ein. Es ist zu viel! Ich nehme das Staubtuch und fange an, einiges oberflächlich abzustauben. Umso mehr ich mache, desto mehr rückt in mein Blickfeld! Vorallem hinter den Dingen, in den Winkeln, den dunkleren Ecken, auf den Leisten und Kanten, unter dem Bett, an den Stuhlbeinen, zwischen und auf den Büchern. Der Staub klebt an den Dingen: an den Strom- und Verbindungskabeln, alter Staub, verkrustet, fossil, an den Bilderrahmen und in den Winkeln mit Spinnenhuddeln. Ich raufe mir die Haare. Ich schüttle das Staubtuch ein paarmal aus. Ich wische feucht nach. Ich schmeiße mit Krümeln und Haaren vermengte Klumpen Staubs in Abfluss und Abfalleimer. Stühle und andere Möbel werden verrückt; auf den Knien robbe ich über den Fußboden und sehe, was ich gar nicht sehen will.
Der Kaffee ist längst kalt. Wie ich diese Sisyphusarbeiten hasse! Die Sonne wanderte inzwischen hinter den Bergrücken. Meine Wohnung ist wieder in weiches Halblicht getaucht. Der Staubspuk ist vorbei. Für heute soll es genug sein! Natürlich ist mir bewusst, dass mein Putzanfall gleich einem Tropfen auf den heißen Stein war. Ich kann mich einfach nicht aufraffen, jeden Tag artig Staub zu putzen und zu saugen. Ich verstehe nicht, wo der ganze Dreck herkommt. Viel zu viele Dinge stehen herum und ziehen den Staub an. Ekelhaft. Ganz von alleine. Es zeigt mir, wie alles unweigerlich dem Zerfall ausgeliefert ist, wenn man es nicht erneuert. Nach wenigen Jahren Nichtputzens und Nichtaufräumens könnte ich mich als Archäologe in meinen eigenen vier Wänden betätigen.
Kaum aufgestanden bin ich bereits wieder müde. Der Tag nach den Nachtwachen ist seltsam. Kraftlos sitze ich am PC. Mein Tagewerk bestand aus einer Stunde Staubwischen. Wozu? Ich schlurfe zum Kühlschrank und öffne mir ein Bier ...