Leider kommt es vor, dass ich nachts desöfteren zum Pinkeln aufstehen muß. Noch halb im Schlaf lege ich die wenigen Meter zur Toilette zurück; wie ein Schiff, das bereits untergegangen, sich schwer wieder über die Wasserlinie schafft ... etliche wirre Gedanken sprudeln durch die Ritzen und Planken meines trunkenen Geistes, also ich dem Harndrang endlich Folge leiste und mich zum Örtchen bemühe. Müde, wie ich bin, setze ich mich gar zum Pinkeln. Die Blase eines alten Mannes braucht ihre Zeit.
Währenddessen nehme ich, was mir gerade in den Sinn kommt und bastele daran wie ein Kind mit Bauklötzen. Scheinbar belanglos ergeben sich Worte und "Wortmutationen". Aus "Eis" wird z.B. "Scheiß".
Gestern Nacht spielte ich dieses Spiel mit dem Wort Anarchie.
Und es sprudelten mir beinahe synchron zu meiner Miktion folgende "Wortmutanten" in den Kopf:
Anarschie, Analschie, Analski ..., und noch einige andere unsinnige Wortkreationen, die ich aber inzwischen vergaß. Möglich, dass mir heute Nacht wieder etwas einfällt. Die Nacht und der Schlaf sind besondere Orte, die ein anderes, eigenes Bewußtsein haben. Mein Geist wird zum U-Boot, taucht ab ins Halbdunkle, in die tintenschwarze Nacht.
Basel war voll. Auf allen Plätzen war die Herbstmesse zu Gange mit Ständen und Fahrgeschäften. Basel war auf den Beinen. Die Trams schienen mir noch mehr über die Füße zu fahren als sonst. In der Stadt bewegte ich mich meist zwischen Barfüsserplatz und Claraplatz. In deren Nähe befanden sich die Kneipen, welche ich aufsuchte, um mich von der Hektik, dem Verkehr, der Kälte und dem Business zurück zu ziehen. Über den Rhein flatterten die Möwen im Wind, oder sie schaukelten blendend weiß auf den Wellen wie Papierschiffchen. Die Sonne hielt manchmal ein Stelldichein. Lange Spaziergänge machte ich nicht. Schnell saß ich in einer ausgewählten Kneipe, bestellte eine Stange und las. Ich las "Fuck off, Amerika" von Eduard Limonow. Ich las den autobiografischen Roman fast in einem Ritt. Limonow (ein Russe) schreibt darin über seine Emigration, seine Zeit als Herumtreiber in New York (Mitte der Siebziger). Das Buch ist ein einziger Wirbelwind aus Zivilisationskritik und beißender Ironie. Ich schlappte mit Limonow durch Basel und New York, zwischenzeitlich in Gedanken mehr in New York und Limonows Verrücktheiten als in Basel - dem Basel im Herbst 2007, einem bunten Städtchen am Rhein, das sich sauber und ordentlich, ebenso langweilig und bieder präsentierte. Die Kneipen, welche ich aufsuchte, stellten bereits die Nischen des sauberen Schweizer Bürgertums dar. Dort verkehrten wohl mehr die Bürgerschrecke. Oder die Franzosen, Intellektuelle und Künstler, die es zumindest sein wollten. Oder eine Anzahl von Studenten. Das "Mr. Pickwicks", Nähe Barfüsserplatz war da eher eine Ausnahme - eine englische Sportkneipe, wo das Bier sündhaft teuer ist.
Ich setzte mich wie immer an die Bar und trank das billigste Bier, das im Angebot war. Auf den TV- Bildschirmen, die überall in der recht geräumigen Wirtschaft herumhingen , liefen den ganzen Tag Sportwettkämpfe, welche Engländer interessieren könnten: Fußball, Polo, Cricket und all so ein Zeug.
In diesem Pub verkehrten hauptsächlich Engländer, und nicht wenige. Ich fragte mich, was die alle in der Schweiz zu tun hatten. Ja, Basel beherbergt eine bunte Mischung aus Völkern. In Kleinbasel (rechtsrheinisch) war das Treiben am buntesten. Großbasel war dagegen mehr in Schweizer Hand. Als Besucher sehe ich nicht so sehr die feinen Nuancen. Ich saß auf dem Barhocker in "Mr. Pickwicks", weil mir die Atmosphäre ganz gut gefiel, und weil ich ab und zu Cricket, diese mir geheimnisvolle Sportart, betrachten konnte - ich rätselte dann immer, was wohl die Regeln seien. Außerdem lauschte ich gern dem Englischen, um zu prüfen, was ich davon noch verstand. Sehr oft bin ich enttäuscht wegen meiner verloren gegangenen Sprachkenntnisse.
Es war bereits dunkel. Draußen wirbelten die Herbstblätter im Licht der Laternen sowie die Flut der feierabendlichen Einkäufer oder Müßiggänger wie ich. Im rechten Winkel zu mir saßen ein Mann und eine Frau an der Theke. Ich versuchte ihrem Gespräch unauffällig zu folgen und bekam so viel mit, dass sie eine Pianistin war und er ein Araber, ein Geschäftsmann, der in "Fashion" machte. Ich fummelte mir die Worte, die ich heraushörte, zu einem Sinn zusammen. Kurz überlegte ich mir, ob ich wieder mit Limonow durch New York streunen sollte, aber ich ließ die Lektüre in der Tasche - denn die Pianistin hatte es mir angetan. Der arabische Geschäftsmann und die Pianistin unterhielten sich auf Englisch.
Ich weiß nicht mehr, wie ich mich in das Gespräch einmischte; der Araber war gerade auf Toilette. Ich betonte, dass ich nicht stören wolle. Ich kann schwer sagen, ob der Araber über einen zusätzlichen Gesprächspartner sonderlich erfreut war, als er vom Pinkeln zurückkam. Sein Gesicht war schwer zu lesen. Aber sicher war er höflich, denn er bot mir von seinen Zigaretten an. Ich glaube, wir sprachen ganz allgemein über die Völkerverständigung. Ich ratebrach mit den Rudimenten meines Schulenglischs; und Worte, die mir nicht einfielen, übersetzte die Pianistin. Sie schien sehr amüsiert von meiner Gegenwart zu sein, denn manchmal verschwand sie, in schallendes Gelächter ausbrechend, in dem Treppenabgang zur Toilette. Wir mussten ein komisches Trio abgeben: Der leicht distinguierte, arabische Geschäftsmann, die temperamentvolle, einheimische Pianistin und ich. Wir stellten uns einander vor, aber ich vergaß ihre Namen wieder; ich war nicht mehr ganz nüchtern. Ich betrachtete die schönen Hände der Pianisten, ihr gelocktes, braunes Haar, ihre intelligente Stirn, das Funkeln ihrer Augen ... und ihr Lachen. Natürlich, ganz so schnell verliebe ich mich nicht; aber irgendwann kommt man der Sache langsam näher. Vielleicht wäre ich bei den Beiden hängen geblieben, wenn ich nicht doch das Gefühl gehabt hätte, dass ich störte - zumindest meinen männlichen Konkurrenten; die Absichten der Frau konnte ich nicht einschätzen. Als der Araber mal wieder auf Toilette war, sagte sie mir, dass sie aus Langeweile froh über die Unterhaltung mit ihm gewesen wäre. Ich sagte, dass es mir genauso ginge. Sie trank Whiskey. Daneben stand eine Karaffe Wasser. Sie würde davon nie richtig betrunken, meinte sie, ich solle es auch mal probieren.
Nichtsdestotrotz, ich musste gehen. Meine türkische Gastgeberin wartete mit dem Essen. Bevor ich mich mit einem Händedruck verabschiedete, schnorrte ich von dem Araber noch eine Zigarette ...
Er hatte bereits den zweiten oder dritten Drink der Pianistin spendiert - ich glaubte darum nicht, dass ich seine Höflichkeit überstrapazierte. Von der Haltestelle Barfüsserplatz ging meine Tram, Linie 3. Es war früher Abend, gegen sieben Uhr. Ich verpasste den Ausstieg und musste zwei Haltestellen zurücklaufen. In der Colmarerstrasse gab es Krautwickel.