Was ich lese

Samstag, 1. März 2014

"Warten auf Wunder" v. John Fante


… Ich ging zur Schreibmaschine und setzte mich vor sie. Ich dachte daran, einen Satz zu schreiben, einen einzigen perfekten Satz. Wenn ich einen Satz schreiben konnte, konnte ich zwei schreiben, und wenn ich zwei schreiben konnte, konnte ich drei schreiben, und wenn ich drei schreiben konnte, würde ich immer weiter schreiben können. Aber, angenommen, es gelang mir nicht? Angenommen, ich hätte alles von meinem schönen Talent verloren? Angenommen es war verbrannt, im Feuer von Biff Newhouse, der mir die Nase einschlug, oder im Tod von Helen Brownell? Was würde mit mir geschehen? Würde ich zu Abe Marx gehen und wieder Hilfskellner werden? Ich hatte siebzehn Dollar im Geldbeutel. Siebzehn Dollar und die Angst vor dem Schreiben. Ich saß aufrecht vor der Schreibmaschine und blies mir in die Finger. Bitte, lieber Gott, bitte, Knut Hamsun, verlass mich jetzt nicht. Ich fing zu schreiben an, und ich schrieb:

„Die Zeit ist gekommen“, sagte das Walroß,
„Zu reden von vielen Dingen:
Von Schuhen – und Schiffen – und Segelwachs -
Von Kohlköpfen – und Königen -.“

Ich schaute es an und schürzte die Lippen. Es war nicht von mir, aber, zum Teufel, irgendwo musste man ja anfangen.


(aus "Warten auf Wunder" v. John Fante)

Samstag, 21. Dezember 2013

Aus "Revolte gegen die Poesie" v. Antonin Artaud


Es gibt etwas hinter seinem Kopf, um die Ohren seines Denkens herum. Etwas, das in seinem Nacken keimt, wo es schon seit Anbeginn war. Er ist vielleicht der Sohn seiner Werke, aber seine Werke stammen nicht von ihm, denn was in seiner Dichtung von ihm stammte, hat nicht er dort eingesetzt, sondern dieser unbewußte Produzent des Lebens, der ihn dazu bestimmt hatte, sein Dichter zu sein und den nicht er sich ausgesucht hatte. Un der ihm niemals wohlgesonnen war.


Ich will nicht der Dichter meines Dichters sein, dieses Ichs, das mich zum Dichter wählen wollte, sondern der schöpferische Dichter im Aufstand gegen das Ich und das Selbst. Und ich erinnere mich des alten Aufstandes gegen die Formen, die auf mich kamen.


(Antonin Artaud)

Sonntag, 8. Dezember 2013

Aus "Die Pflicht und die Pflichten" v. Miguel de Unamuno


...
Gibt es denn etwas Schrecklicheres als eine Idee? Der Leser hat wahrscheinlich noch nie darüber nachgedacht, was es bedeutet, wenn man von einem sagt, eine Idee habe sich ihm in den Kopf gesetzt. Was in der Mehrzahl der Fälle nichts anderes bedeutet, als den Kopf in eine Idee zu versetzen. Und ein Mensch, der darauf verfällt, einer dieser Ideenmenschen, ist schrecklich. Das sind die Menschen des wildesten, des kalten Fanatismus. Der wiederum ist der disziplinierte und gehorsame Fanatismus.
Denn es gibt tatsächlich das, was wir kalte Leidenschaft nennen könnten. Ja sogar eiskalte. Und eine dieser kalten Leidenschaften ist die der großgeschriebenen PFLICHT.
Gott möge uns dagegen unreine, unphilosophische, sentimentale, anekdotische und nicht kategorische Menschen geben, mit denen wir Umgang haben können, mitleidige und nicht gerechte, Träumer, Sorglose, wenn man will, wenig bis gar nicht diszipliniert im absurden militärischen Sinn der Disziplin, aber wirklich diszipliniert im anderen Sinn, im Sinne der Disziplin des „discipulus“*, des Jüngers, der von Herzen und aus eigenem Antrieb die Meisterschaft – des Meisters – fühlt, denn die wahre Disziplin oder „discipulina“** erfordert Meisterschaft und nicht Autorität. Gott möge uns Menschen mit einem feinen Gespür für ihre Pflichten, jedoch keinerlei Verständnis für die großgeschriebene PFLICHT schenken. Und aus der Philosophielosigkeit dieser Menschen und der Unreinheit ihrer Seelen wird eine lebendigere Philosophie entstehen, eine Philosophie, die keinen Platz hat in Systemen logischer Begriffe.


(Miguel de Unamuno)

* discipulus - auch Schüler, Lehrling
** discipulina - Unterricht, Lehre

Freitag, 6. Dezember 2013

Sommerphantasie - Miguel de Unamuno

(aus einem unvollendeten und unvollendbaren Brief)


...
Ich pflege, wie ich dir gesagt habe, ein Buch mitzunehmen, jedoch um nicht in ihm zu lesen. Kennst du nicht den Reiz, ein Buch zur Hand zu haben, um nicht in ihm zu lesen? Es ist köstlich. Es höchstens aufzuschlagen, ein paar Worte zu lesen und es wieder zu schließen.
...
Um die Stunde, wenn die Kühe an den Fluß zum Trinken herunterkommen, begebe ich mich zu der stillen Stelle in der Nähe der Mühle, die wie ein großer Tümpel aussieht, und sehe sie, wie sie sich im Wasser spiegeln, als wären es zwei Kühe, die einander trinken. Und da ich sie am Ufer liegend anschaue, befreit von unserer normalen Stellung des Hochaufgerichtetseins - Du wirst dich sicher erinnern, dass der Mensch, unserem Freund zufolge, nichts anderes als ein vertikales Säugetier ist -, erlangt dies alles einen merkwürdigen Eindruck von Unkörperlichkeit. Es ist, als verwandle sich die gesamte Landschaft in ein bloßes Gewand des Raumes, der Unermeßlichkeit Gottes, nach unserem Philosophen.
Und so ist es mit allen Dingen, die direkt durch die Sinne in mich eindringen: dem Rauschen des Flusses und der Blätter, dem Grün der Wiese und der Bäume, den Kühen, den Käfern, der Mühle, den Wolken; all dies dient mir als Gewand der Begriffe, die ich im Winter im Schatten der Bibliothek lernte. Es gab einen Augenblick, unlängst, in dem ich unseren Freund L., den Wissenschaftler, nicht wie einen Menschen anschaute, das heißt, nicht wie ein rationales Wesen voll von Gedanken, Affekten und Wünschen, sondern wie ein Tier, wie den Ochsen, der aus dem Fluß trinkt. Am liebsten hätte ich ihn umarmt.
...
Hast du je darüber nachgedacht, was man einen Charackter nennt? Die Menschen, von denen man sagt, sie seien ein Charakter, sind so, dass man ein ganzes Jahr über sie lachen kann, ohne aufzuhören. Ihre nahezu einzige Sorge ist es, ihrem Typus getreu zu bleiben. Denn sie haben einen Typus. Oder wie unser guter P., der Paradoxist, sagt, sie imitieren sich selbst. Und wieviele gibt es nicht von der Sorte, die nichts tun, als sich selbst zu imitieren!
...

(Miguel de Unamuno)

Montag, 25. November 2013

Aus "Plädoyer des Müßiggangs"


...
Was war denn Sokrates anderes als ein Müßiggänger? Es ist uns kein einziges Zeugnis einer Skulptur bekannt, die er hinterlassen hätte, obwohl er doch Bildhauer war. Und wenn er nichts geschrieben hat, so nehme ich an, dass dies auf seine Bequemlichkeit zurückzuführen ist, weil er sich nicht die Mühe nehmen wollte, zur Feder zu greifen. Die Zeit, die er aufs Schreiben hätte verwenden können, verwandte er darauf, durch die Straßen zu schlendern auf der Suche nach dem nächstbesten Jüngling, mit dem er über Gott und die Welt plaudern konnte. Wenn er heutzutage lebte, würdet ihr ihm bestimmt in irgendeinem Café beim Klatsch mit anderen Müßiggängern seinesgleichen begegnen. Und wie viele Sokrates sterben wohl, ohne dass wir von ihrer enormen Leistung hören, weil ihnen ein Plato oder Xenophon fehlt, die ihn uns schriftlich erhalten würden!
Ein Schriftsteller, der zu Geld gekommen ist mit ein paar Stückchen der leichten Muse, in denen sich mehr oder weniger witzige Witze aneinanderreihen, sagte einmal von einem armen Bohémien, der im Elend starb, er sei "ein Nichtsnutz gewesen"; dabei hatte er die meisten Witze, die ihm zu seinem Ruf und seinem Geld verholfen hatten, von jenem, dem Verschwender, dem Nichtsnutz, gehört. Sowas soll öfter vorkommen.
Überall, aber vor allem dort, wo das Fieber der Geschäftemacherei verheerende Wirkungen zeigt, muss man lernen, Achtung vor den Müßiggängern zu haben. Sie sind es deshalb, damit sich andere den Genuß des Arbeitens leisten können.

(Miguel de Unamuno)


Miguel de Unamuno Meurisse c 1925

Montag, 11. November 2013

Mondblutungen





"Mondblutungen" von Meral Vurgun – ein Lyrik-Tipp vor allem für die türkischen Leser. Leider gibt es (noch) keine deutschsprachige Ausgabe. Erhältlich ist das Buch hier.
Wer Merals Dichtkunst in deutscher Sprache kennenlernen will, findet sie auf ihrem Blog Gedichtefluss. Auch wenn die Übertragung ins Deutsche schwierig ist, nicht perfekt aus Merals Muttersprache gelingt – es lohnt sich!

Ich lernte Meral mit ihren Gedichten vor Jahren in dem Literaturforum "Leselupe" kennen. Die Kraft ihrer Worte zog mich sofort in Bann. Die bildhafte Sprache reizt zu Assoziationen und fließt direkt ins Herz. Ihre Gedichte sind wie eine Naturgewalt, wie ein Fluss oder ein See, wie ein Berg oder der Himmel, wie der Wind oder der Regen … Meral schreibt sich die Wunden, die Tränen und die Sehnsucht von der Seele. Sie ist eine Rebellin für Menschlichkeit und Gerechtigkeit.
Ich schätze diese Frau nicht nur als Dichterin. Sie ist ein wunderbarer Mensch und ihren Söhnen eine wunderbare Mutter. Sie lebt seltene Tugenden wie Bescheidenheit und Großmut.
Ich freue mich für Meral, dass sie einen Verlag für ihre Lyrik fand. Sie hat es verdient. Und ihre Gedichte sind es allemal wert, an eine breite Öffentlichkeit zu gelangen und honoriert zu werden!

Samstag, 26. Oktober 2013

Er spricht mir aus der Seele


"... die hinterhältigen, kleinen Leute voll Rotz und Tod wird es immer geben. Und während wir sagen, lasst sie leben, lasst sie, lasst ihnen ihren Willen, nur lasst auch uns Raum zum Atmen ... gehen sie auf uns los, Brüder, mit ihren von der Historie angefressenen, akademisch geschrumpften Hirnen, und ihre Frauchen daheim spielen mit Pflanzen und verblasenen Uraltversen aus dem 17. Jahrhundert herum, derweil ihre neurotischen Gatten kalt lächelnd irgendwelche armen Hunde im mächtigen Namen des Fortschritts und des Profits ausnehmen, und das sind nunmal verflucht die Leute, die unsere Werke als unecht, schmutzig, abgedreht, gnadenlos und blind abtun ..."
(Charles Bukowski)

Mittwoch, 16. Oktober 2013

"Damals war ich jung und wusste nicht weiter; jetzt bin ich alt und weiß nicht weiter"

Auszug aus
Ein hin und her schweifender Essay über Poetik und das verfluchte Leben, verfasst bei einem Sechserpack Bier
v. Charles Bukowski


"Andererseits könnte man auch reich werden, und es hätte nichts zu bedeuten. Lachen Sie ruhig. Ich nehme alles Geld, dass ich von Ihnen kriegen kann, werde mir aber immer darüber im Klaren sein, dass ich nichts habe. Wenn die Reichen die Krone der Menschheit sind, dann will ich schnell raus hier.
Ich habe die blanken Knochen der Köpfe toter Schweine mit toten Äpfeln im Maul gesehen, und sie waren weniger hässlich; gar nicht hässlich waren sie im Vergleich. Da saß ich also am Tisch in der Bibliothek, verging vor Hunger im Licht der Sonne. Alles drang auf mich ein: der Scheißkrieg, der Stumpfsinn, der Tod, das Fliegengebrumm …
Damals war ich jung und wusste nicht weiter; jetzt bin ich alt und weiß nicht weiter. Ich saß da, umgeben vom Wissen der Jahrhunderte, und es nützte mir gar nichts, kein Lebender hatte mir etwas zu sagen. Ich saß da zwischen den ganzen Büchern und dachte, so wie die Menschen ums Leben gebracht werden, könnte man sie gleich mit Schraubenzieher und Zange bearbeiten und ihnen Säure in die Augen schütten; man könnte ihnen einfach die Beine ausreißen, sie in Tigerkäfige sperren. So wie sie die Menschen töten, kommen nicht zwei aus einer Million lebend davon, und wer macht das und warum?
Und wenn ich die Bibliothek verließ und durch die Straßen lief, kam ich an verschlossenen Haustüren und zur Nacht verriegelten Fenstern vorbei. An Frauen, die mich schief ansahen wegen meines zerlumpten Aufzugs, die aber mit jedem Schwein geschlafen hätten, das einen Strang Rennpferde oder Pfandhäuser sein eigen nannte. Ich lief durch Straßen voller toter Menschen, die sich bewegten und redeten und Namen und Stolz und Besitztümer hatten, in Wirklichkeit aber tot waren. Jede Gesichterparade wurde für mich zum Albtraum – bösartige, verknöcherte und Kloschüsselgesichter … mir drehte sich alles vor Augen nach so einem Spießrutenlauf; nicht vor Hunger, sondern weil mir klarwurde, dass ich, solange ich lebte, in einer Welt der Toten leben würde."
...
(Charles Bukowski, Das weingetränkte Notizbuch, Stories und Essays 1944 - 1990)

Mittwoch, 25. September 2013

Ask The Dust


"…
Es war kurz nach drei Uhr an einem unvergleichlichen Morgen. Der Himmel war so blau und die Sterne waren so weiß wie in der Wüste, und die Nacht war von derart ergreifender Zartheit, dass ich stehen bleiben und darüber staunen musste, dass es so viel Schönheit überhaupt gab. Nicht ein Wedel der staubbedeckten Palmen rührte sich. Nicht ein Laut war zu hören.
Alles, was gut in mir war, jubelte in diesem Augenblick in meinem Herzen, alles, worauf ich meine Hoffnung setzte im tiefen, dunklen Grund meines Wesens. Hier war der ewig sprachlose Friede der Schöpfung, gleichgültig gegen die große Stadt; unter diesen Straßen und um diese Straßen lauerte die Wüste, wartete darauf, dass die Stadt ihr Leben wieder aushauchte, um sie dann wieder zu bedecken mit zeitlosem Sand.
Und schrecklich klar war mir plötzlich, wie kläglich das Schicksal eines einzelnen Menschen ist. Die Wüste war immer dagewesen und würde immer da sein, ein geduldiges, weißes Tier, das auf den Tod der Menschen wartete und das Erlöschen aller Zivilisationen. Angesichts dessen kamen mir die Menschen tapfer und mutig vor, und ich war stolz, einer von ihnen zu sein. Alles Böse in der Welt schien mir jetzt überhaupt nicht mehr böse, sondern unvermeidlich und gut und Teil des endlosen Kampfs gegen die Wüste.
Ich schaute nach Süden, wo die hellsten Sterne leuchteten. Dort lag die Santa-Ana-Wüste. Unter diesen hellen Sternen lag ein Mann wie ich in einer Hütte, und diesen Mann würde die Wüste wahrscheinlich lange vor mir verschlucken; dieser Mann hatte Zeugnis abgelegt von seinem Kampf gegen die unbarmherzige Stille, der er unausweichlich entgegentrieb, und dieses Zeugnis hielt ich hier in meiner Hand. Ob er nun ein Mörder war oder ein Barmann oder Schriftsteller – sein Schicksal war unser aller Schicksal, sein Ende mein Ende; und hier und heute Nacht in dieser Stadt, hinter all den dunklen Fenstern, lagen Millionen wie er und ich, und wir alle ähnelten einander wie sterbende Grashalme. Das Leben war hart genug, aber das Sterben war die schwerste Aufgabe.
..."

zitiert aus "Ich - Arturo Bandini" von John Fante

Donnerstag, 5. September 2013

Jean Valjean - der Prototyp eines Heiligen


Jean Valjean auf dem Sterbebett: „Sterben bedeutet nichts. Es ist schrecklich, nicht zu leben.“


Nun habe ich den Wälzer „Les Misérables“ endlich zu Ende gelesen. Ein Schnell- und Vielleser bin ich nicht gerade. Gestern las ich die letzten fünfzig Seiten vor einem Café in der Nachmittagssonne. Ich bekam feuchte Augen vor Rührung und Ergriffenheit, was die Sonnenbrille gut verbarg. Es wäre mir peinlich gewesen in der Öffentlichkeit.
Ein Vierteljahr begleitete mich Victor Hugos Roman auf meinen Wegen. Zuhause lese ich selten. Da sitze ich vorm Computer oder schaue fern. Es kann sein, dass ich eine Woche überhaupt nicht lese. Trotzdem schleppe ich das Buch immer mit mir herum – ich könnte schließlich einen Anfall von plötzlicher Leselust bekommen.
Bei „Les Misérables“ gefielen mir am Besten die ersten zwei- dreihundert Seiten und das Ende. In der Mitte schleppte sich die Lektüre etwas dahin (was aber auch an mir als Leser liegen kann). Neben der Freude an Victor Hugos Erzählkunst bescherte mir das Buch einige sehr gute Charakterstudien und ... Geschichtsunterricht. Nun glaube ich die Jahrzehnte nach der Französischen Revolution besser zu verstehen. Hugo schildert eingehend die unterschiedlichen gesellschaftlichen Verhältnisse und Kräfte sowie die Stimmung in Frankreich, vor allem in Paris.
Die moralischen Fragen, die aufgeworfen werden, gelten ebenso heute. Sie werden wohl jede Generation bis ans Ende aller Zeiten bewegen. Es geht um Gewissensentscheidungen, um Gut und Böse, um die persönliche Verantwortung und um das Schicksalhafte im Leben eines Menschen, welches ihn prägt und auf Abwege bringen kann. Jean Valjean ist das Beispiel eines Menschen, der sich trotz ungünstigen Schicksals aufrappelt, seinem Gewissen folgt und schließlich eine Aufgabe findet, die ihn am Leben erhält. Das Ganze wird von Hugo mit einigem Pathos inszeniert. Aber so schrieb man wohl damals. Der Roman wird darum nicht schwülstig, weil er genug psychologischen Tiefgang besitzt.
Vor vielen Jahren wurde „Les Misérables“ im Radio (in vielen Folgen) von dem hervorragenden (leider verstorbenen) Gert Westphal vorgelesen. Seitdem wollte ich das Buch. Und nun las ich es! Es ist schon merkwürdig, wie manches lange im Hintergrund schlummert, um dann eines Tages doch Gestalt zu bekommen. Bei Hesses „Steppenwolf“ ging es mir ähnlich. Es brauchte über zehn Jahre, bis ich mich endlich an die Lektüre machte, - was ich nicht bereute! Es ist fast so, als ob das Leben den richtigen Moment für uns abpasst.
Zufall? Ich weiß nicht.
Eine gute Lektüre ist wie ein Schatz, der die menschliche Seele bereichert. Sie ist weit mehr als Unterhaltung und Zeitvertreib. Sie beschäftigt die Gedanken und kann sogar wichtige Impulse für das eigene Leben setzen. „Les Misérables“ von Victor Hugo kann ich nur empfehlen.
Jean Valjean ist der Prototyp eines Heiligen, der kein Heiliger sein will. Das Schicksal hilft ihm, weil er leidensfähig ist, weil er nie aufgibt und schließlich nur Gutes im Sinn hat. Was für ihn völlig logisch bzw. folgerichtig erscheint, verwundert seine Umwelt. Seine Mitmenschen können nicht verstehen, dass ein Mensch, zudem ein als Galeerensträfling Geächteter, derart selbstlos und geradlinig hehre Ziele verfolgt. Selbst der Polizist Javert, der ihn über Jahre verfolgt, und für den diese Verfolgung zur persönlichen Angelegenheit wird, kapituliert am Ende an Jean Valjeans Güte und Weisheit. Der Polizist springt in die Seine, weil er an dem sich ergebenden inneren Widerspruch verzweifelt. Die Engstirnigkeit seines Gendarmen-Hirns konnte nicht zulassen, dass sich Gut und Böse in der Gestalt Jean Valjeans umkehren. Die Vorverurteilung, erzeugt durch gesellschaftliche Werte und Konventionen, hat ihm ein Bein gestellt.
Hier entlarvt sich die bürgerliche Spießigkeit und Heuchelei selbst.
(Das gefällt mir natürlich.)

Okay, „Les Misérables“ ist zu Ende gelesen. Es folgt das nächste Buch, auf das ich bereits sehr gespannt bin: „Ich – Arturo Bandini“ von John Fante. Wenn es hält, was ich erwarte, stehen mir einige schöne Lesestunden bevor.

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