Als die Zeit noch langsamer verging, wollte ich nichts verpassen. Demgemäß war jeder neue Tag aufregend. Ich hechelte wie ein Hund meinen Erwartungen hinterher.
Nach einigen durchlebten Jahrzehnten vergeht die Zeit schneller – ich weiß nicht genau, wie viel schneller. Doch um einiges, denke ich.
Gibt es noch was, das ich verpassen könnte?
Meinen eigenen Tod vielleicht…
Zur Ablenkung ein Witz, den ich gestern in einem Film mitkriegte:
Warum war das Toilettenpapier in der DDR so rau?
…
Damit auch der letzte Arsch rot blieb.
Bobbele, nun biste fast in meinem Alter. Pleite zwar aber mit einer ansehnlichen Patchworkfamilie. Gar zu schlecht scheint es dir nicht zu gehen. Deinen Fünfzigsten feiertest du jedenfalls recht ausgelassen, wie zu lesen ist.
Ich erinnere mich noch gut an die Achtziger, als du Tenniserfolgsgeschichte schriebst. Ich herumtreibender Student an der TU Karlsruhe und du auf dem Center Court in Wimbledon. Deine Matches liefen überall, wo TV-Geräte standen oder hingen. Wir fieberten jedem Ballwechsel kollektiv entgegen. Bum-Bum Boris! Dann die Becker-Rolle! Wir feierten deine Siege und stießen auf dich und unser ödes Leben an. Bobbele hatte es mal wieder geschafft!
Was für eine tolle Zeit waren die Achtziger mit Koryphäen wie Helmut Kohl, Herbert Grönemeyer, Steffi Graf und dir! Da war noch nicht Internet, sondern Kneipe.
Und dein Gestammel in den Interviews – einfach göttlich! Wir machten uns regelmäßig lustig darüber. Das waren Running Gags.
Du hast dich ganz schön gemausert, alter Junge. Es verschlug dich nach London, mich nach Berlin. Weißt du, dass wir aus derselben Gegend stammen? Hast du noch Heimatgefühle? Als meine Eltern starben, starb für mich in gewisser Weise der letzte Rest Heimat…
In einem deiner letzten Interviews sagtest du: „Das Überschreiten der 50-Jahre-Marke ist ein wichtiger Geburtstag für einen Mann. Es ist das erste Mal, dass du zurückblickst auf dein eigenes Leben und wirklich beginnst, die Dinge einzuordnen. Gleichermaßen erreicht man einen Punkt, an dem man nach vorne sieht und in der fernen Zukunft die Ziellinie erkennen kann." So oder ähnlich hast du`s ausgedrückt. Gar nicht so einfach, die Dinge einzuordnen, finde ich. Und von wegen Ziellinie – ich erkenne da eher einen Abgrund. Aber als Sportler siehst du die Dinge freilich sportlich.
Alles Gute zum Fünfzigsten, nachträglich! Halte die Ohren steif.
...ich saß auf der Toilette vornübergebeugt und schaute auf meine Füße. Ich zählte meine Fußzehen und kam auf Sechs. Wieso sechs, fragte ich mich, und warum war mir das vorher nie aufgefallen?
Machen nicht die Fliegen den eigentlichen Scheißhaufen aus, weil sie ihm Beachtung schenken und ihn umschwirren?
Oder sind wir Menschen der eigentliche Scheißhaufen, weil wir diesem Geschehen beobachtend Bedeutung verleihen?
Kann ein Scheißhaufen nur für sich ein Scheißhaufen sein - ganz ohne Fliegen und ohne uns...?