Der lange Abschied


Wie sehr die Eltern von ihren Kindern auf den Sockel gehoben werden, erlebe ich oft im Altenheim. Die erwachsenen Söhne und Töchter können den körperlichen und geistigen Abbau ihrer Eltern oft nicht akzeptieren. Ist z.B. ihr Vater oder ihre Mutter offensichtlich demenzkrank, ignorieren sie dies einfach. Sie können die Veränderungen nicht hinnehmen, weil sie zu sehr von dem Bild abweichen, welches sie von ihren Eltern haben. Dieses Bild scheint wie eingebrannt zu sein. Die Nichtakzeptanz der Realität äußert sich dann durch eine Rollenumkehr. Die Kinder wollen ihre Eltern erziehen. Sie schimpfen mit ihnen, als wären diese Kinder, und sie schämen sich für sie, wenn sie bei den Mahlzeiten mit dem Essen spielen oder in die Hose machen ...
Eine Altenheimbewohnerin, die ich abends noch ins Bett bringe, beklagte sich wiederum bei mir: "Meine Tochter kapiert nicht, wie hinfällig ich bin ..., dass ich das alles nicht mehr kann. Die denkt immer noch, ich könnte rumspazieren, dabei sitze ich schon lange im Rollstuhl."
Die Söhne und Töchter sehen immer nur einen kleinen Ausschnitt vom Pflegealltag, wenn sie zu Besuch sind. Da sitzen ihre Eltern (normalerweise) geschniegelt und gestriegelt am Kaffeetisch. Von den vielen notwendigen pflegerischen Verrichtungen kriegen sie kaum was mit; und ich hege den Verdacht: viele wolle es auch nicht mitkriegen.
Irgendwann können sie es dann doch nicht mehr leugnen, dass ihre Eltern nicht mehr die sind, die sie bis dahin kannten und ehrten, die über Jahrzehnte unantastbare Autoritäten für sie gewesen waren. Das ist für viele schmerzlich. Nicht alles schaffen es, sich mit der Wirklichkeit zu konfrontieren. Auch Ängste vor dem eigenen Alt-Werden mögen dabei eine große Rolle spielen. Jedenfalls stellen manche ihre Besuche ein oder kommen mit der Zeit immer seltener.
Wir pflegen z.B. eine Frau, die sehr früh an der Alzheimer Demenz erkrankte. Vor 15 Jahren war die Tochter noch manchmal bei ihr - ich erinnere mich. Dann kam nur noch eine alte Schulfreundin - selten aber regelmäßig - ein paar Jahre lang zu ihr ans Bett. Die Frau wird schon lange enteral ernährt und ist völlig immobil. Wie eine überernährte Heuschrecke liegt sie mit ihren Kontrakturen im Bett, hustet Schleim ab und zuckt manchmal unwillkürlich. Sie stöhnt und stößt tierisch anmutende Laute aus. Eigentlich hat sie ihre krankheitsbedingte Lebenserwartung bereits um einige Jahre überschritten, aber durch die künstliche Ernährung und durch die Antibiotika-Gabe bei Infektionen "durfte" sie noch nicht gehen ... In meinen Augen ein ethisches Fiasko!
Die Angehörigen, sie hat einen Sohn und eine Tochter, die nicht allzu weit weg wohnen, schrieben sie vor Jahren schon ab. Welcher Knoten würde da wohl platzen, wenn sie heute der Anruf aus dem Altenheim erreichte, dass ihre Mutter verstorben sei? Vielleicht könnten sie dann erst richtig Abschied nehmen. Oder sie nähmen auch dies einfach nur noch am Rande wahr, weil sie ihre Mutter längst in ihren Köpfen und Herzen beerdigten ...
Geht denn das? frage ich mich. Ach, was weiß ich schon von deren familiären Verhältnissen?! Ich will ihr Verhalten nicht werten. Wer weiß, was alles dahinter steckt? Außerdem ist es ein Extremfall aus der Praxis. Im Großen und Ganzen fühlen sich die Kinder der Alten schon verpflichtet, regelmäßig zu kommen. Auch wenn einige mit dem Zustand ihrer Eltern nicht klarkommen - was sie oft am Pflegepersonal ablassen, indem sie aus einer Überfürsorglichkeit oder Hilflosigkeit ständig nach uns rufen.
Das Leben ist grausam. Am grausamsten ist die Hilflosigkeit, die wir im Pflegealltag beinahe permanent spüren. Dazu kommt die Überforderung durch zu wenig Personal ... Oft reagieren wir genervt, sind ausgepowert und können den Menschen nicht mehr das angemessene Mitgefühl entgegen bringen. Das tut mir leid. Irgendwie stecken wir alle in der Predouille: die Alten, die Angehörigen, die Ärzte, das Pflegepersonal. Immer wieder werden wir mit Grenzerfahrungen und Tabuthemen konfrontiert.

Ich würde gern eine Pause einlegen.

Auch ich habe Eltern. Sie gehen auf die Achtzig zu. Mein Vater hat eine beginnende Demenz. Ich liebe ihn. Vom Sockel stürzte ich ihn bereits vor vielen Jahren.
Manches ist mit Worten nicht zu sagen.

tom-ate - 19. Sep. 11, 12:52

"Manches ist mit Worten nicht zu sagen." Vielleicht deshalb hier noch kein Kommentar? Bin auch sprachlos, aber danke für den ehrlichen Bericht aus der "Wirklichkeit". Die Welt der Illusionen füttern wir ja schon genug.

bonanzaMARGOT - 19. Sep. 11, 12:59

es ist halt kein angenehmes thema, tom-ate.
und jeder hat da bestimmt seinen eigenen blickwinkel, auch unter uns altenpflegern.
Lange-Weile - 19. Sep. 11, 15:00

mit Liebe Leid ertragen ?

Hallo Bo.,

ja..so grausam kann das Leben sein.

Ich erlebte meine Mutter für ein paar Monate auch schwer erkrankt. Zum Glück erholte sie sich wieder gänzlich und konnte ihr altes Leben noch einmal aufnehmen. Aber in diesen Monaten der Pflege hatte ich auch meine mentalen Probleme, was die Hinfälligkeit meiner Mutter betraft.
Ich sah sie nicht auf dem Sockel oder ähnlichem, sondern eine mir am Herzen liegende Person, deren Leid ich nur schwer ertragen konnte.

Ich denke, die Angehörigen, über die du in deinem Beitrag schreibst, konnten ebenfalls das Leid nicht mehr ertragen . Im Falle meiner Mutter war ja ein Ende abzusehen, in den schweren Fällen von Alzheimer und Demenz gibt es kein "gutes" Ende und dass macht die Angehörigen sicher hilflos. Wenn dann auch noch die Kommunikation zusammen bricht - d.h. keine Reaktion des Erkrankten - dann scheint auch die letzte Bindung zu schwinden. Jedoch kann ich mir nur schwer vorstellen, dass die Angehörigen, die sich nicht mehr sehen lassen, je einen Tag ohne schlechtes Gewissen dafür verbringen.

Gestern sah ich zufällig noch mal in einer Talkrunde Gabi Köster. Sie erzählte, wie ihr 18 jähriger Sohn sie pflegte und seine Muttern zum Klo schleppte. Viele andere Freunde und Bekannte verschwanden plötzlich aus ihrem Leben, weil sie sahen, das mit einer Genesung nicht so schnell zu rechnen war. Sie wollten möglichst schnell die alte Gabi Köster wieder haben. Und als diese nicht mehr in Aussicht war, verschwanden sie wortlos aus ihrem Leben. "Das Leben räumt sich selber auf" so begründete sie diese Tatsache. Nun ist die umgeben, von Menschen, die sie lieben.

Aber die Alten - Demenzkranken ? Einige von ihnen scheinen niemanden mehr zu haben, die sie lieben. Aber wurden sie vielleicht schon vorher nicht von Lieben umgeben ?

LG LaWe


bonanzaMARGOT - 19. Sep. 11, 15:18

wie ich es schrieb, lawe: man weiß selten die hintergründe. mein bruder wurde z.b. als kind mehrmals von meinem vater nach allen regeln der kunst verprügelt und mit abstrusen erziehungsmaßnahmen gequält. er spricht heute nicht mehr mit ihm ...

liebe und zuneigung kann man nicht selbstverständlich einfordern.
ein guter spruch übrigens: "das leben räumt sich selber auf." dem stimme ich zu.
kommunikation bei schwierigkeiten funktioniert nur, wenn auf beiden seiten einsichtsfähigkeit da ist - sowie die bereitschaft, (evtl.) zu verzeihen.
ich konnte meinen eltern verzeihen. wahrscheinlich, weil meine liebe- und zuneigungsbilanz einfach besser aussieht als die meines bruders.
wie ich aber mit ihrem altwerden und der drohenden hinfälligkeit und pflegebedürftigkeit (vorallem bei meinem vater) unmgehe, weiß ich nicht.
...
ich hatte schon eine menge freundinnen ..., die sich aus meinem leben verabschiedeten, aber ich habe eben nur diese einen eltern.

die beweggründe, warum sich angehörige von ihren pflegebedürftigen eltern distanzieren, sind je nach biografie, kultur/religion/tradition und charakter der menschen unterschiedlich.

wenn man sich in einer notlage befindet, ist es gut zu wissen, dass es menschen gibt, die einen bedingungslos lieben ... und für einen da sind.
Lange-Weile - 19. Sep. 11, 16:07

Nachgefragt

Hallo Bo.,

hat dein Bruder sich auch schon mal gefragt, warum es ihn so sehr getroffen hat? Warum er die Wut seines Vaters auf sich zog. Oder anders gefragt. Hat dein Bruder schon mal euren Vater mit seiner Erziehungsmethode einem seiner Söhne gegenüber konfrontiert?

Vielleicht hat der Vater eine Erklärung dafür. Wenn er - du hast es ja erwähnt - an Demenz erkrankt ist, dann wird die Zeit knapp, sich mir dem Vater darüber zu unterhalten. Das könnte beiden Frieden bringen.

Aber der Getroffene sieht das sicher anders und will sich mit dem Thema nicht mehr beschäftigen, Aber auf der anderen Seite bleibt der Groll in einem und macht unbewusst mental doch zu schaffen

LG LaWe

bonanzaMARGOT - 19. Sep. 11, 16:10

lawe, ich habe zu meinem bruder keinen kontakt - noch mal `ne andere geschichte ...; aber ich weiß so viel, dass mein vater darüber nicht reden will, bzw. die brutalitäten leugnet.

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