Der Herbst ist eine gute Zeit für Beerdigungen


Wind und Regen. Ich öffne das Küchenfenster, und feiner Nieselregen weht mir ins Gesicht. Was war das für ein Sommer – wie ein fetter warmer Hefeteig, monatelang. Die Sonne machte schwindelig.
Es ist früh am Morgen, noch düster. Ich träumte wirres Zeug: von vergeblicher Liebe, von Verlassenwerden. Immerhin flog ich mal wieder. Doch stemmte sich mir eine unsichtbare Macht entgegen, und ich kam kaum vorwärts, wurde in Seitenstraßen abgetrieben. Ich musste mich unglaublich konzentrieren, was sehr viel Kraft kostete… Ich suchte meine Gefährten und fand sie nicht. Zwischendurch hatte ich das Gefühl, dass das alles nicht wahr -, nicht wirklich passiert sein konnte.
Die Getränke sind alle, und ich warte auf den Lebensmittellieferanten. Natürlich läuft derweil Blues aus dem Internetradio. Irgendeinen alten Blues-Musiker hörte ich vor Kurzem sagen: „Blues ist, wenn es einem guten Menschen schlecht geht.“ Ich zünde eine Kerze an, für mich und meine Seele…
Ich will, dass sie endlich weg ist – weg aus Kopf und Herz, weg aus meinen Träumen. Normalerweise beerdigen wir unsere Toten, um ihnen zu gedenken, um einen Platz zu haben, an dem wir ihnen nahe sein können. Bei mir ist es das genaue Gegenteil: Ich will alle Erinnerungen, Bilder und Gedanken an eine Person beerdigen, die noch lebt. Die Trauer und das Gefühl des innerlichen Wundseins müssen ein Ende haben! In der letzten Kurznachricht an sie schrieb ich, sie sei nun endgültig für mich gestorben. Noch nie in meinem Leben stellten sich meine Gefühle einer Person gegenüber derart auf den Kopf. Aus Liebe wurden mittlerweile abgrundtiefe Verachtung und Abscheu. Ich denke an einen riesigen unförmigen Kadaver, der einst unsere Liebe war, nun vor sich hin faulend grausamen Verwesungsgestank ausströmt. Ich muss diese Pest loswerden, die mich seit Monaten von Innen vergiftet. Ich muss das faule Fleisch herausschneiden und die Wunde veröden. Aber leichter gesagt als getan, wenn es sich um so etwas Diffuses wie die Seele handelt. Andere Methoden müssen her. Eine Menge Bilder kamen mir in den letzten Tagen in den Sinn: Ausradieren, ausschaben, in einem Fahrstuhl zum Mittelpunkt der Erde schicken, in den Gulag verbannen, abschütteln wie Herbstlaub, totficken, in ein Schwarzes Loch schleudern, pulverisieren, wie Unkraut jäten, auskotzen… Meiner Seele ist wirklich nach Erbrechen. Leider kann ich mir nicht einfach den Finger in den Hals stecken und das Problem damit beseitigen. Ich stelle mir die Seele eher durchlässig mit sowas wie Poren vor, aus denen das Gift langsam entweicht, wenn ich mir es nur stark genug wünsche. Vielleicht helfen auch Rituale – erstmal alles vernichten, was an die Person erinnert. Mir fallen immer noch Sachen auf, die sie mir mal schenkte und hier rumliegen. Weg damit! So entdeckte ich vor Kurzem zwei Schals, die meiner Säuberungsaktion entgangen waren. Das Ganze darf nicht zu einer Halben Sache verkommen. Das Loswerden von seelischem Giftmüll durch eine verkorkste Liebe ist kein einfaches Unterfangen. Der Rückfall war freilich eine ganz große Dummheit von mir. Beinahe hätte ich mich dabei seelisch selbstverstümmelt. Scheiße aber auch.
Wie sieht`s inzwischen draußen aus? Etwas heller geworden. Ein paar mehr Passanten. Der Lieferservice ließ sich noch nicht blicken. Er hat ein Zeitfenster von vier Stunden. Gott sei Dank Wochenende. Ich hing auf Arbeit ganz schön durch. In mir nagte dieser unglaubliche, schmerzhafte Ekel. Hätte sie mir doch nur nicht geschrieben, was ich mir zwar ohnehin dachte, aber eigentlich nicht wissen wollte, nämlich, dass sie einen Neuen hatte. Wahrscheinlich bereits, als wir noch zusammen waren, - denke ich mir jedenfalls. Das würde einiges erklären. Aber egal. Ich verbot mir, weiter zu grübeln. Bringt nichts. Viel zu lange zermarterte ich mir das Hirn. Nun schließe ich endgültig die Tür hinter mir, eine meterdicke Panzertür, und werfe den Schlüssel in ein Meer aus Salzsäure. Soll sie ihren Frieden auf dem Schwanz des Neuen finden…
Ich verfluche den Tag, an dem sie mir begegnete. Nichts würde ich lieber tun, als die Zeit viereinhalb Jahre zurückzudrehen, um nicht an diesem Vormittag auf Mallorca in den Bus zum Bahnhof an der Placa Espanya zu steigen, wo sie am Fahrkartenschalter hinter mir stand und das Elend seinen Lauf nahm. Die Zeit kann man nicht zurückdrehen. Klar. Also in die Trickkiste greifen: So ein Blitzding, wie es die Agenten im Kinostreifen „Men In Black“ anwenden, würde mir auch schon helfen. Was für ein angenehmer Gedanke, sie einfach nicht wiederzuerkennen, falls ich sie sähe.

la-mamma - 22. Sep. 18, 16:26

Ich mach das eigentlich genau umgekehrt: die guten Erinnerungen ( und die hast du doch sicher such) bewahre ich...die anderen sind schon auch da, werden aber nicht "gehätschelt".

bonanzaMARGOT - 22. Sep. 18, 16:43

Nö, ich bin bei sowas absolut rabiat. Wenn ich von einem Menschen derart enttäuscht bin, ich mich in einem Menschen derart täuschte, wandert alles auf den Müll. Die schönen Erlebnisse werden bei weitem von dem bösen Ende überschattet.
Leider können wir manchmal erst im Nachhinein einen Betrug erkennen. Dass ich eine Zeitlang glücklich war, vergrößert nur die Schmach.
C. Araxe - 22. Sep. 18, 21:57

Hm, ich finde es hat beides seine Berechtigung, erinnert zu werden. Das Negative steht bei einer Enttäuschung klar erst einmal bzw. ausschließlich im Vordergrund. Wenn erst einmal etwas ( je nachdem auch etwas viel mehr) Zeit vergangen ist, urteilt man dann doch mitunter etwas milder oder versteht mit klarerem Blick vieles besser und kann auch dem Positiven wieder einen Platz in der Erinnerung einräumen. Dazu muss man nicht die Vergangenheit verklären, vielmehr sollte man das auf keinen Fall tun, denn die negativen Erfahrungen gehören nach wie vor ebenfalls dazu. Also beides gehört dazu und beides gehört der Vergangenheit an, die man nicht mehr ändern kann. Im Negativen wie im Positiven.
bonanzaMARGOT - 22. Sep. 18, 22:09

Was ich für mich wie interpretiere und zulasse, ist allein meine Sache. Mit dieser Geschichte und der dazugehörigen Person bin ich durch. Ich erwarte nicht, dass dies Aussenstehende verstehen.
C. Araxe - 22. Sep. 18, 22:44

Es ging mir nicht darum, Ihnen Ihre Sichtweise zu nehmen, sondern einfach nur eine andere in Worte zu fassen. Zumindest bedeutet Bloggen für mich auch, dass man auf Kommentarebene (mitunter sehr verschiedene) Meinungen austauscht.
bonanzaMARGOT - 23. Sep. 18, 09:52

@ araxe

klar tauschen wir mitunter gegensätzliche meinungen aus. gerade ich rede oft und gern dagegen, weil ich die dinge gern hinterfrage und eine relativ kritische sichtweise auf welt und gesellschaft pflege.
vergangenheit unterliegt immer der wertung und interpretation durch die gegenwart, bzw. dem menschen, der im rückblick eins und eins zusammenzählt und z.b. eine moralische wertung des geschehenen vornimmt. das macht er entweder über quellen oder im persönlichen bereich hauptsächlich durch eigene erinnerungen und erfahrungen.
im vorliegenden fall einer gescheiterten liebe sind verletzung, schmerz, schmach und unverständnis derart groß, dass sich der autor des obigen beitrags entschließt, lieber die gesamte erinnerung an das corpus delicti auszulöschen bzw. nicht mehr zuzulassen. er will die sache endgültig beerdigen, um davon zu genesen. er diffenrenziert nicht mehr zwischen guten und schlechten erlebnissen/zeiten/erinnerungen, sondern wirft alles auf einen haufen und richtet einen flammenwerfer drauf. er will, dass nichts mehr von dieser "geschichte" übrigbleibt.
wie realistisch sein ansinnen ist, steht auf einem anderen blatt... jedenfalls schreibt er es sich von der seele.
danke fürs lesen und kommentieren.
fata morgana - 22. Sep. 18, 18:20

...jeder muss da wohl seinen eigenen weg finden und gehen...

bonanzaMARGOT - 22. Sep. 18, 18:32

So ist es. Scheiß auf die Liebe. Am Ende ist man immer allein. Na ja, außer ein paar Glückspilzen.
rosenherz - 23. Sep. 18, 14:26

Ich fasse mal zusammen ohne eine Bewertung dabei vorzunehmen: Fakt ist, die Beziehung zu O. ist beendet und du willst deinen Schmerz los werden:
... Grübeln. - Bringt nichts. Zermartet nur das Hirn.
... Die Zeit zurückdrehen. - Ein Ding der Unmöglichkeit.
... Den Finger in den Hals stecken. - Wirkt nur körperlich.
... In die Kirche gehen. - Lieber in die Kneipe.
... Gott anrufen. - Du sagst, du brauchst keinen.
... Ritual des Weggebens von Dingen. - Hilft teilweise.
... Vergessen. - Ich bin gespannt auf deine Berichte, wie gut sich das bewerkstelligen lässt und wie erfolgreich diese Methode ist.

bonanzaMARGOT - 23. Sep. 18, 14:38

sie wirkt schon die methode, wenn du es unbedingt methode nennen willst. liebesgeschichten sind individuell. jede ist anders. anfang und ende sind anders. ich gehe dabei nicht rational vor. ich muss meiner seele genüge tun. es ist ähnlich, wie wenn ich vor einem halbfertigen bild stehe und den nächsten pinselstrich mache. den mache ich einfach - aus dem bauch heraus. und irgendwann sind es tausend pinselstriche oder noch mehr, und das bild ist fertig. ist das nun eine methode? ich würde sagen, das bin "ich". man dringt in die tieferen gefilde der persönlichkeit nur durch intuition und erfühlen vor. der vestand hat dabei nur eine ordnungsfunktion.
du würfelst in deinem kommentar übrigens einiges durcheinander. die punkte "in die kirche gehen" und "gott anrufen" haben nichts mit dem verdauungsvorgang meiner liebesmisere zu tun.
bonanzaMARGOT - 23. Sep. 18, 15:07

um am beispiel des malens eines bildes zu bleiben. manchmal übermale ich einiges auf dem bild, weil es nicht glückte... in diesem fall muss ich einiges sehr dick übertünchen.
rosenherz - 23. Sep. 18, 15:23

... das mit dem Übertünchen habe ich unlängst auch gemacht bei einem Bild. In der oberen Bildhälfte ist ein Gesicht entstanden, das mir jedoch äußerst missfiel. Nach etlichen Tagen entschloss ich mich dazu, es zu übermalen. Seltsamerweise ist zwar das Portrait von der gemalten Bildfläche weg, aber es existiert noch in meiner Erinnerung und da sehe ich es deutlich vor mir in seiner ursprünglichen Version. Als wäre es dort unauslöschlich eingebrannt.
bonanzaMARGOT - 23. Sep. 18, 15:29

das ist das verfluchte an der seele, dass man das ein oder andere gerne auskotzen würde..., aber wie ich es in meinem text schrieb, stelle ich mir die seele eher als ein gebilde mit feinen poren vor, die nur nach und nach den mist, den wir loswerden wollen, abgeben können. das übertünchen ist trotzdem ein guter anfang, finde ich, um der seele (deutlich) zu zeigen, welchen weg wir einschlagen.
die seele ist schwach ohne unsere unterstützung. einer der gründe, warum die liebe so verhängnisvoll sein kann.
rosenherz - 23. Sep. 18, 16:03

Was anderes: Wie sehr magst du es, wenn ich bei dir kommentiere? Ich habe den Eindruck gewonnen, du seist genervt von meinen Wortmeldungen.
bonanzaMARGOT - 23. Sep. 18, 16:13

grundsätzlich mag ich alle kommentare, die hereinschneien.
freilich gibt es kommentare, die mich nerven. aus unterschiedlichen gründen.
wenn ich sehe, dass du kommentiertest, mache ich mich schon auf kritische anmerkungen gefasst. klar, dass kritische bemerkungen immer anstrengender sind als positive. wir kennen uns nur über die kommentare. hm...
nein, ich bin meist nicht genervt, wenn du hier schreibst. manchmal fragte ich mich sogar, warum du dich solange nicht äußertest. du hast immer so phasen, wo du mehr kommentierst, aber dann auch wieder gar nicht. ein bisschen vermisse ich dich dann sogar.
bonanzaMARGOT - 23. Sep. 18, 16:56

Und du? Wie genervt bist du von meinen Wortmeldungen?
Was macht für dich den Reiz aus, meine Beiträge zu kommentieren?
bonanzaMARGOT - 24. Sep. 18, 05:15

ich wehre mich vehement gegen deinen vorwurf, ich würde mit meinen kommentaren emotionalen missbrauch betreiben.
dir ist offenbar nicht klar, was emotionaler missbrauch bedeutet.
solche anschuldigungen, wie du sie hier machst, nerven (z.b.), weil sie unrichtig und für leser(innen) irreführend sind.

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