Ritchie


Wie alles anfing. Das Wasser floss noch schneller, und Gebüsche waren noch Gebüsche. Ritchie fuhr einen Fiat 500 mit Faltdach. Er war der erste von uns mit einem Auto. Wir waren Schüler des Ottheinrich-Gymnasiums. Die Schule lag in einem weitläufigen Komplex mit anderen Schulen und den Sportstätten am Stadtrand. Sie hatte nichts Besonderes, außer dass sie unsere Schule war. Tausend Pennäler wurden von mehr oder weniger dazu begabten Paukern unterrichtet. Jahr für Jahr wurden wir durch diese Wissensmühle gezogen, und plötzlich standen wir kurz vorm Ende. Zehn Jahre lang (inklusive Ehrenrunde) war diese Schule für mich zu einer meist ungeliebten Pflichtübung geworden. Andererseits entwickelten sich dort Freundschaften, die erste Liebe… Als mittelmäßiger Schüler am unteren Rand schlug ich mich so leidlich durch. Dementsprechend gehörten meine Kumpels nicht zu den Klassenbesten, sondern eher zu den Außenseitern. Was wir gemeinsam hatten: wir schissen auf die Schule (und überhaupt alles). Aber wir waren zu gut erzogen, um nicht eine Restdisziplin aufzubringen. Instinktiv wussten wir, dass ein Abbruch nur noch mehr Probleme brächte. Wir waren abhängig von den Eltern. Wir wussten nicht viel vom Erwachsensein und Geldverdienen. Was uns die Eltern vorlebten, erschien jedenfalls nicht sehr begehrenswert.
Ritchie war ein pummeliger, kleiner Typ, dem sehr früh die Haare ausgingen. Ich mochte sein Lachen, und er hatte schöne Augen. Und: er war kein Schwätzer. Schwätzer und Angeber waren mir schon immer ein Gräuel. Ritchie mochte Levis Jeans, Led Zeppelin und Fußball.
Endlich konnten wir unsere Entschuldigungen selbst schreiben! Den Sportunterricht am Nachmittag ließen wir gern ausfallen und unternahmen stattdessen eine Sause nach Heidelberg. Alles was weiter als fünf Kilometer von unserem Zuhause entfernt lag, bedeutete damals noch Abenteuer. Auf der Fahrt öffneten wir das Faltdach des Fiat 500 und sangen lauthals Beatles Songs nach oder französische Chansons, die wir bei unserem Französischlehrer gelernt hatten, einer der wenigen guten Pauker, ein Kettenraucher. Seine Stimme klang danach, und er lief ziemlich schlampig durch die Gegend. Aber wir hingen an ihm. Bei ihm fühlten wir uns verstanden.
In der Oberstufe hatten wir jede Menge Freistunden zwischen den Kursen (oder wegen Krankheit einer Lehrkraft). Ritchie fuhr oft für den Hausmeister mit der markanten Säufernase zum Supermarkt und besorgte dessen Lieblingswein für einen Obolus von zwei Mark. Das reichte für ein Sixpack Bier, das wir schnell noch vorm nächsten Unterricht vernichteten. Die Zeit bis zur nächsten Schulstunde musste dabei genau kalkuliert werden. In jedem Fall waren wir danach lustig drauf. So fing es damals an. Der Beginn meiner Alkoholkarriere.

rosenherz - 17. Feb. 17, 09:29

"Alles was weiter als fünf Kilometer von unserem Zuhause entfernt lag, bedeutete damals noch Abenteuer."
Bei mir war es: Alles was weiter als zwanzig Kilometer von unserem Zuhause entfernt lag, bedeutete die große, weite Welt.

bonanzaMARGOT - 17. Feb. 17, 09:38

ja, so ähnlich. da muss man sich nicht um ein paar kilometer streiten. ich nehme mal meine heimatstadt mit den umliegenden dörfern, die in einem radius von 5 - 10 kilomentern um den stadtkern lagen. heidelberg lag 15 kilometer entfernt als nächstliegende großstadt und war für uns damals eine andere dimension mit seinen vielen geschäften, kaufhäusern und kneipen.
mit den jahren schrumpften die entfernungen...
rosenherz - 17. Feb. 17, 11:12

Für mich war es eher das Staunen, als das Abenteuer. Im Dorf verteilten sich die Greislerei, die Schneiderin, der Schuster, der Fleischer, der Bäcker und das Bankinstitut. In der Stadt gab es bereits die Fußgängerzone, auf der sich ein Geschäft neben das andere reihte. Da kam ich aus dem Staunen gar nicht heraus. Eine Auslage folgte der nächsten mit ihren bunten Waren. Die dunkle, mit schweren Möbeln eingerichtete Apotheke mit ihren vielen vielen Laden, aus den die Damen oder Herren im weißen Mantel ihre Packungen hervorholten und aushändigten!
bonanzaMARGOT - 17. Feb. 17, 11:33

gestaunt habe ich vor allem über die masse an menschen und autos in der (groß)stadt. darüber staune ich noch heute.
ansonsten war der kulturschock nicht allzugroß. ich lebte in einer aufstrebenden kleinstadt, wo ich zusammen mit diese ganzen "modernen" entwicklungen aufwuchs.
rosenherz - 17. Feb. 17, 14:49

Autos haben mich damals nicht interessiert. Die Menschenmassen habe ich wohl übersehen zwischen den Häuserfronten und Auslagen.
bonanzaMARGOT - 17. Feb. 17, 14:52

ich war viel mit dem fahrrad unterwegs - wenn ich da die autos übersehen hätte...
rosenherz - 17. Feb. 17, 17:02

Ach ja, damals. Das war die Zeit von Spritzgebäck aus dem Fleischwolf, wie man das zu Weihnachten gemacht hat.
bonanzaMARGOT - 17. Feb. 17, 18:17

Mit Spritzgebäck kenne ich mich nicht aus, aber ich saß gern bei meiner Mutter in der Küche, wenn sie buk. (Oder heißt es inzwischen "backte"?)
C. Araxe - 17. Feb. 17, 20:44

Buk ist korrekt. :·)
AlterRettich - 17. Feb. 17, 21:19

Buk ist zwar korrekt, aber bereits veraltend.
C. Araxe - 17. Feb. 17, 22:00

Wieso veraltet? (Oder was meinen Sie mit veraltend?) Das ist wirklich vollkommen korrekt auch nach der neuen Rechtschreibung.
AlterRettich - 18. Feb. 17, 08:13

Mit veraltend meint der Duden, dass diese Form aus dem Sprachgebrauch langsam verschwindet.
bonanzaMARGOT - 18. Feb. 17, 08:17

ich benutze gern veraltende wörter.
la-mamma - 17. Feb. 17, 15:17

dieser text gefällt mir. wollt ich nur so sagen ...

bonanzaMARGOT - 17. Feb. 17, 18:12

Super!

Vielen Dank!
C. Araxe - 17. Feb. 17, 21:06

Ähm, quasi 9 Jahre Gymnasium? Verstehe ich nicht. Was die Sache mit der großen Stadt betrifft, kann ich dies nur teilweise nachvollziehen, da ich selbst in einer Großstadt aufgewachsen bin. Damals Ost-Berlin, wo ich sehr oft war, war dann doch wieder etwas anderes, aber vor allem, weil dort vieles für DDR-Verhältnisse anders war. Zur Schulzeit hing ich übrigens auch meist mit den Außenseitern ab, jedoch viel mir alles Schulische ziemlich leicht und so befand ich mich also gewissermaßen in einer Doppelaußenseiterrolle.

bonanzaMARGOT - 18. Feb. 17, 07:14

nach vier jahren grundschule neun jahre gymnasium.
das ergibt bis zum abi eine schulzeit von 13 jahren.
mittlere reife hätte man nach der 10. klasse gehabt.
was daran verstehst du nicht?
in der ddr war die schule sicher anders unterteilt.

bei mir kommt nicht nur der stadt-land gegensatz zum tragen, sondern auch die damals erst einsetzende entwicklung des sogenannten wirtschaftswunders in der brd.
C. Araxe - 18. Feb. 17, 14:56

Ach so ja ... G8 gibt es im Westen ja noch nicht so lange. (Das Schulsystem in der DDR war ganz anders, aber nach 12 Schuljahren, so wie jetzt meistens auch überall in D, wurde das Abi gemacht.)
bonanzaMARGOT - 18. Feb. 17, 17:57

12 jahre reichten damals für das fach-abi (fachhochschulreife). für die allgemeine hochschulreife mussten wir allerdings 13 jahre absitzen.

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