Aller Anfang ist schwer


Mit smarten Siebzehn trug ich eine Zeitlang die Tageszeitung aus. Der Bezirk, den ich übernahm, bestand hauptsächlich aus einer großen Psychiatrie, parkähnlich auf der Anhöhe über der Stadt angelegt. Das Gelände hatte die Größe von einem Dorf. Zum Einlernen fuhr ich hinten auf dem Moped meines Vorgängers mit, als er seine letzten Touren machte. Für ihn war es längst Routine, aber ich sollte mir alles genau einprägen, während wir von Backsteinhaus zu Backsteinhaus knatterten, vor deren Türen oft schon jemand auf die Zeitung wartete. Mein Vorgänger verriet mir einige Abkürzungen und gab mir Tipps – ich nickte nur und duckte mich hinter ihm auf dem Moped. Es war bereits November und frühmorgens frostig kalt und dunkel.
Schließlich hatte ich meine erste Woche, wo ich selbstständig losfuhr. Ich machte den Job, bevor die Schule Zehn vor Acht begann. Eine knappe Stunde musste ich dafür planen. Wie verändert das Gelände plötzlich aussah! Und die Häuser schienen alle gleich auszusehen. Diese Psychiatrie war ein verdammter Irrgarten! Fast die Hälfte der Zeitungen konnte ich nicht zustellen. Es war eine Katastrophe für mich. Natürlich erhielt ich einen Rüffel von meinem Chef, bei dem die Beschwerden der Zeitungskunden eingingen.
Beschämt erzählte ich meiner Mutter davon, und sie schlug vor, dass wir am Wochenende zusammen die Tour zu Fuß abgehen sollten. Wir zeichneten außerdem einen Plan. Ich glaube, wir verwendeten den halben Sonntag dafür, durch die Psychiatrie zu spazieren. Langsam kam für mich Licht ins Dunkel. Akribisch gingen wir jedes Haus ab, wo ich eine Zeitung (oder mehrere) zu liefern hatte.
Die zweite Woche lief danach wesentlich besser! Ich hatte eine Orientierung und verfranzte mich seltener.
Der Winter wurde kalt und glatt. Meine Mutter machte sich Sorgen, wenn ich frühmorgens auf meinem Moped losschnurrte. Aber alles ging gut. Schon bald hatte ich dieselbe Routine wie mein Vorgänger. Ich war stolz auf meinen ersten Job und das erste selbstverdiente Geld.


Meine Klassenkameradin sagt zu mir: „Das wird schon. Ich dachte anfangs auch „ob ich da jemals durchblicke?“ – aber vieles wiederholt sich mit der Zeit. Ich finde, du wurdest beim Dokumentieren schon schneller.“ Sie sitzt im Unterricht neben mir und kann mit einem Auge mitverfolgen, was ich ins GTDS* eingebe.
Ich bin ihr dankbar für die aufmunternden Worte. Nach zwei Wochen spüre ich erste Fortschritte. Unendlich viele Fragezeichen bleiben aber. Jede Tumorentität hat ihre Spezialitäten. Auch die Anamnesen zu den Fällen können außerordentlich kompliziert und darum schwer abzubilden sein.
Ich werde noch viel Geduld und Anstrengung investieren müssen, bis ich in der Tumordokumentation eine Art Routine bekomme.
Mit der Geschichte von meinem ersten Job als Zeitungsausträger mache ich mir selbst Mut. Ich stehe nicht das erste Mal in meinem Leben am Anfang einer Sache, die mir völlig unmöglich erscheint.


*Gießener Dokumentationssystem

AlterRettich - 27. Nov. 16, 11:07

Respekt! Bei weitem nicht alle verkraften einen solchen Neuanfang. Kopf hoch und weiter so! Alles Gute wünscht dir der Alte Rettich.

bonanzaMARGOT - 27. Nov. 16, 11:15

danke!
wie die schulleiterin zu mir sagte: "dran bleiben!"

krebs ist starker tobak. dass ich mir ausgerechnet sowas aussuchen musste... (lach!).

dir auch alles erdenklich gute!
AlterRettich - 27. Nov. 16, 11:23

Stimmt - "Dran bleiben!" :-) Gut, dass du auch noch von der Schulleiterin unterstützt wirst. Und privat doch sowieso, oder?

bonanzaMARGOT - 27. Nov. 16, 11:43

ja.
O. zeigt bewundernswert viel geduld, denn sie kriegt meine unzufriedenheit und miese laune ab.
iGing - 27. Nov. 16, 11:45

Kopf hoch, dann ist die Aussicht nicht mehr so schlecht!

"Alle Dinge sind schwierig, bevor sie leicht werden."
(Französisches Sprichwort, glaube ich, war das)

bonanzaMARGOT - 27. Nov. 16, 11:59

danke, iging, eine schwere woche liegt hinter mir...
mir fehlt oft die geduld mit mir selbst, so dass zweifel und fluchtgedanken raum gewinnen.
und etwas mehr ehrgeiz könnte ich auch gebrauchen.
iGing - 27. Nov. 16, 13:57

Geduld ist in erster Linie ein Loslassen - von Erwartungen. Das kannst du! Dazu muss man nämlich nur die Erwartungen beiseite lassen, dass man etwas schon können sollte, was man gerade am Lernen ist. Du musst nicht alles schon können - du lernst es gerade. Und durch Übung wird es besser. Das muss reichen, oder?

Der Ehrgeiz wird sehr schnell verzichtbar, wenn eine Notwendigkeit vorliegt (also wenn du Geld mit deiner Tätigkeit verdienen musst). Die Bereitschaft, diese Arbeit zu erledigen, ersetzt den Ehrgeiz. Und wenn du Geld mit deiner Tätigkeit verdienen MUSST und keine andere Möglichkeit hast, dann ist Ehrgeiz sogar einfach fehl am Platz, denn du kannst da kein hoch gestecktes Ziel erreichen. Du kannst einfach nur die Arbeit erledigen und mehr wird auch nicht erwartet. Dafür wirst du bezahlt.
Den Rest der Zeit bist du damit beschäftigt, ein gutes Verhältnis zu deinen ArbeitskollegInnen zu schaffen und aufrecht zu erhalten. [Oder das Gegenteil, je nachdem.]

So läuft es in den Büros. Mehr ist nicht drin.
(Sage ich aus Erfahrung. Denn ich habe da auch "nur fürs Geld" gearbeitet.)
bonanzaMARGOT - 27. Nov. 16, 14:26

klar, so läuft es nicht nur in büros, iging.

ich wurde halt im praktikum von meinen kolleginnen mit aussagen konfrontiert wie "was, das kannst du noch nicht - was hast du denn in deiner mda-fortbildung gelernt?" oder "das habe ich dir doch gestern gezeigt...".
sowas vermittelt mir das gefühl, dass ich offenbar a little bit blöd bin. du weißt ja, iging, wenn du büroerfahrung hast, wie subtil frauen dahingehend vorgehen können... natürlich kann ich meine kolleginnen auch verstehen, da ich erstmal eine belastung für sie darstelle - alle wollen, dass ich so bald wie möglich eher eine entlastung bin, indem ich selbstständig in dieser schwierigen materie arbeite und ihnen ein paar tumor-fälle abnehme.
das setzt mich schon unter druck.
dazu kommt, dass im praktikum mit einem anderen doku-system gearbeitet wird als in der schule.
nun mal sehen. ich lasse mich keinesfalls zu sehr strietzen...
iGing - 27. Nov. 16, 21:11

Ja klar, am liebsten sollst du ihnen die Arbeit gleich ganz abnehmen. Und ja, subtil bis offenkundig feindselig können sie sein, da ist alles möglich, zwischen spitzen Randbemerkungen bis Totalmobbing ... Dein Selbstwertgefühl sollte das allerdings auf keinen Fall ankratzen. Das hast du nicht nötig. Basta.
bonanzaMARGOT - 28. Nov. 16, 13:57

danke für die aufbauenden worte, iging!
C. Araxe - 28. Nov. 16, 20:56

Hm ... das sehe ich schon wesentlich anders. Also, auch wenn man explizit nicht auf Karriere aus ist, kann man Ehrgeiz entwickeln oder ehrgeizig sein. Aus dem einfachen Grund beispielsweise, dass man selbst mit seiner Arbeit zufrieden sein will.
Und wenn man einen neuen Mitarbeiter einarbeiten muss, erst recht, wenn es um komplexe Anforderungen geht, dann ist es meist nicht so, dass „die Arbeit gleich ganz abgenommen werden soll”, sondern, dass man bei der Einarbeitung zumindest mal zu dem Punkt kommt, wo es keine Mehrarbeit für den Einweisenden ist. Das ist zumindest anfangs immer der Fall.
bonanzaMARGOT - 29. Nov. 16, 06:19

du beziehst dich wahrscheinlich auf igings kommentar.

ich bin praktikant für drei monate und kein neuer mitarbeiter, der eingelernt wird.
für mich ist das praktikum wichtig, um neben der schule praktische erfahrung in der tumordokumentation zu sammeln.
im interesse der abteilung, in der ich arbeite, ist es, dass ich innerhalb der drei monate schnellstmöglich tumorfälle relativ selbstständig ins system einpflegen kann, um sie zu entlasten.
sowieso kann ich nicht mehr, als ich kann...

in punkto ehrgeiz: karriere will ich keine starten. es geht mir um einen job, mit dem ich über die zeit bis zur rente komme, der halbwegs interessant und anspruchsvoll ist. und selbstverständlich möchte ich meine arbeit dabei gut machen.
AlterRettich - 27. Nov. 16, 11:57

Das ist die Hauptsache. Wie ich dir erzählte, bin ich privat leider nicht in so einer privilegierten Situation.. Da geht mir ziemlich beschissen, mal vorsichtig ausgedrückt. Ich will dir aber damit nicht die Laune verderben.

bonanzaMARGOT - 27. Nov. 16, 12:03

tust du nicht.
ich schätze das glück, das ich mit meiner partnerin habe, aber ich fühle mich deswegen nicht privilegiert.
blöd, dass es bei dir privat schlecht läuft. gibt es dafür keine lösung?
christa mavropoulou - 27. Nov. 16, 12:20

Alles braucht seine Zeit, es ist doch okay, wenn du NOCH nicht den vollen Durchblick über diese "Materie" hast. Später wirst du darüber lächeln.

Schönen Sonntag wünsche ich.

KarenS

bonanzaMARGOT - 27. Nov. 16, 12:27

das hoffe ich.

dir auch einen schönen sonntag!
AlterRettich - 27. Nov. 16, 12:33

Klar ist "privilegiert" kein 100%ig passendes Wort, mir ist aber kein andres eingefallen. Mir fehlt halt die Nähe und die Wärme, die im privaten Bereich eigentlich unbedingt da sein müsste.

bonanzaMARGOT - 27. Nov. 16, 12:44

kann ich ganz gut nachvollziehen, da ich zwischendurch längere phasen ohne partnerin hatte. aus meiner sicht ist es reine glückssache, einen menschen zu finden, der im großen und ganzen akzepiert, wie man ist, und einen dafür auch noch liebt. insofern bin ich vom glück privilegiert. aber dieses glück kann immer kippen... eine partnerschaft bedeutet eben auch eine gewisse einschränkung, das aushalten von konflikten und braucht... viel-viel zuwendung.
wir menschen sind ja mehr oder weniger alle egoisten, so dass ein zusammenleben im schlimmsten fall zur hölle werden kann. bekannterweise sehnen wir uns immer nach dem, was wir (gerade) nicht haben.

zur zeit will ich mir kein leben ohne O. vorstellen.
AlterRettich - 27. Nov. 16, 21:42

Schön, schön ist das! Sehr viel Zuwendung und gewisse Einschränkungen und dass man sich kein Leben ohne den andren vorstellen will.

Es gibt nix schlimmeres als zu zweit zu sein und sich dabei einsam zu fühlen.

Viel Glück wünscht euch der Alte Rettich.

bonanzaMARGOT - 28. Nov. 16, 13:59

danke, glück kann man immer gebrauchen... vor allem was die gesundheit angeht - zur gesundheit gehört auch glück in der partnerschaft.

alles gute für den wochenstart!
steppenhund - 30. Nov. 16, 05:10

Off Topic - oder auch nicht

Man kann Ausbildung auch von der anderen Seite sehen. Nachdem ich immer wieder angefordert werde, als Greis noch etwas von meinem "kostbaren" Wissensschatz preiszugeben, habe ich "mich jetzt zusammengefasst" und eine entsprechende homepage verfasst.
Ist nicht für Dich vom Thema interessant, aber auch das ist jetzt ein neuer Anfang. Selbstständige Tätigkeit ohne den Zwang, davon leben zu müssen. Ganz im Gegenteil: ich darf nicht zu viel verdienen, sonst nimmt mir faktisch alles Steuer und vor allem Sozialversicherung weg. Aber wenigstens kann ich jetzt sagen: das(!) mache ich und das(!) mache ich nicht. Meine homepage
Mal sehen, was daraus wird.

bonanzaMARGOT - 30. Nov. 16, 11:20

ich wünsche dir viel erfolg mit deinem projekt. ich meine mit erfolg vorallem zufriedenheit, anerkennung und einfach freude an der sache. wenn sich ein zuverdienst ergibt, umso besser.
als greis sehe ich dich nicht an. das greisenalter beginnt meines erachtens frühestens mit achtzig.

bei mir geht`s erstmal darum, eine halbwegs vernünftige arbeit bis zur pensionierung zu finden.
als lehrer bzw. dozent kann ich mir mich nicht so recht vorstellen. das ist O.s metier, und ich finde es klasse, wie sie ihre arbeit an der uni und an den sprachschulen meistert.
mal sehen, wohin mich die "tumordokumentation" führt...
steppenhund - 30. Nov. 16, 16:54

Danke! Jetzt habe ich im ersten Augenblick Tumordokumentation gelesen ... hüstel, hüstel ...

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