F48.0


Die Stadt sieht aus wie mit einer Kalkschicht überzogen. Das Wochenende grinst mich lakonisch an. Ich sitze mitten im Berliner Winter, meinem ersten. Das Leben erscheint mir als großer zugefrorener See. Manchmal knackt das Eis unter den Füßen bedrohlich. Aber vielleicht ist es auch die eigene Feinnervigkeit. Dann erfasst mich die Öde der riesigen Eisfläche und ihre Kälte. Am liebsten würde ich ausreißen – aber wohin?! Die Hände in den Manteltaschen vergraben stapfe ich jeden Tag zur Schule und zurück. Ich warte in der U-Bahnstation auf den Zug, drängele mich an den anderen vorbei, blicke in die immer gleichen Gesichter… Wofür die ganzen Treppen hoch und runter rennen? Meine Nerven fühlen sich wund an. „Das ist doch ganz normal“, sagt O., als ich ihr meinen inneren Zustand schildere, „Alle müssen das ertragen.“ Sie hat recht. Aber ich werde wütend und herrsche sie an: „Du verstehst das nicht!!“ O. bekommt meine Gereiztheit zu spüren, was mir sogleich leidtut. Doch ich kann und will es nicht ändern! Wie festgefroren stehe ich in der Gegend, überwältigt von meiner Verzweiflung. Niemand kann mich hier rausholen. „Ich will nur meine Ruhe“, sage ich zu O..
Das Wochenende beginnt ganz in meinem Sinne. Ich verschicke Onlinebewerbungen fürs Praktikum, und O. arbeitet an ihrem Computer für ihre Lehrveranstaltungen. Im Hintergrund laufen Songs von den Beatles. Der Samstag fühlt sich ganz gut an. Mein neurasthenischer* Anfall scheint vorbei zu sein. Ich hoffe es – auch O. zuliebe.


(* Als ich nach „Neurasthenie“ googelte, war ich einigermaßen überrascht, dass es für dieses Krankheitsbild sogar einen ICD-Code gibt " http://www.icd-code.de/icd/code/F48.0.html ".)

SpeziellesKänguru (Gast) - 23. Jan. 16, 14:18

gut gut. mit "normal" meinte ich allerdings, dass diese alltagssachen bewältigt werden müssen. und da sie oft öde oder manchmal sogar ätzend vorkommen, ist man auf die notwendigkeit angewiesen, sie möglichst "positiv" zu sehen. das lässt sich natürlich nicht immer steuern. ich litt an neurasthenie als kind, zumindest lag eine solche diagnose vor. tz tz tz
ich mag auch diesen samstag .. denn ich muss auch nicht unbedingt irgendwo hin rennen. ob du es mir glaubst oder nicht ;)

bonanzaMARGOT - 23. Jan. 16, 18:48

solche "zustände" habe ich, seit ich denken kann. wenn ich die welt erstmal als normal empfinde (dauerhaft), dann werde ich nicht mehr ich sein.
ich kann nicht einfach dinge positiv interpretieren, wenn sie mir gegen den strich gehen. natürlich mache auch ich abstriche; selbstverständlich gehe auch ich kompromisse ein, um im beruf, im privaten, einfach im leben durchzuhalten.
niemals aber will ich zu sehr von "meinem weg" abweichen...
Lange-Weile - 25. Jan. 16, 11:30

Zustimmung

Hallo Bo.,

ich stimme O. zu - aushalten ist das Zauberwort und danach wird die Welt sich besser anfühlen.
"Du verstehst mich nicht" bringt nicht weiter sondern macht nur einsam, denn damit wird der Partner auf Distanz gebracht und ihn, wenn man genau hinsieht, ein schlechtes Gewissen gemacht, weil er einem eben nicht versteht.
Ich erinnere mich an Situationen im Leben in der die depressive Stimmung mich niederreißen wollte. Ich lag im Bett und beklagte mein Leben, konnte mich dagegen nicht wehren. Eine 2. Stimme im Kopf sagte mir:"Das musst du jetzt aushalten" .. weiß der Teufel, woher die Ansage kam. Aber ich war garantiert allein. "Ok" und ich hielt es aus, ohne Gegenwehr, ohne Weichmacher und siehe da, der Druck lies auch wieder nach. Diese Stimmungen kehrten in Intervallen wieder, jedoch vergrößerten sich die zeitlichen Abstände zwischen ihnen, bis es kaum noch düstere Gedanken gab.

Jemand sagte mir mal, das ich mich in solchen Momenten zum leiden entschieden hätte, besonders wenn ich daran festhielt. Denn dort lag bei mir die Hase im Pfeffer... ich hielt daran fest.

All das ist das Ergebnis meiner Selbstbeobachtung. Alles steckte in mir, es kam nur darauf an, was ich kultivierte und was nicht. Heute kultiviere ich lieber den Frohsinn und lass den Trübsinn kommentarlos an mir vorbei ziehen.

Achja.. hatte ich ganz vergessen. Ein gesundes Neues ;-)

LG LaWe


bonanzaMARGOT - 25. Jan. 16, 17:05

ich hatte dich schon vermisst im neuen jahr.

aushalten muss man sowieso alles..., die welt, die menschen, das wetter und die eigenen stimmungen.
ich stehe auf dem standpunkt, dass ich die dinge so sehe, wie sie sind - also auch ihre negativen seiten. ich kann mir keinen frohsinn vorgaukeln.

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