Dienstag, 31. Dezember 2013

Zug durch die Jahre


Zug durch die Jahre



Derweil in meine Studien vertieft,
ein alter Mensch tritt ins Abteil.
Er sitzt gebückt in Grau mir gegenüber,
draußen flitzen Landschaften vorüber.

Der Blick des alten Menschen ruht
in sich gekehrt,
verlegen breche ich das Schweigen
und frage, wohin er fährt.
Er schaut auf und sagt:
„Nicht weit, nicht weit.
Ich war auf der Suche
nach dem Motor der Zeit;
ich wanderte das ganze Leben,
wollte die Lokomotive finden,
die uns durch die Jahre zieht.
Hier bin ich – alt und müde
und habe es aufgegeben.“

Nach diesen Worten lächelt der
alte Mensch.
Kalenderblätter schweben über Wiesen,
ein neues Jahr, ein Herzenswunsch,
ein neues Leben
steigt ein, steigt aus.


(1985/86)





28 Jahre später sitze ich am Silvestertag im Licht der Schreibtischlampe. Ich warte auf meinen Nachtdienst. Es bleiben mir noch zwei Stunden, bis mein Bus fährt.
Als ich heute Morgen von der Arbeit kam, dachte ich, wie unwirklich und seltsam das Leben mir nach wie vor erscheint. „Absurd, absurd – ist mein Gefühl“ beginnt eines meiner ersten Gedichte, das ich ein Gedicht nennen will. Es trägt den Titel "Der fragende Mensch" ( v. 1981).
Ich war immer auf der Suche. Ich konnte das Fragen nie lassen. Nirgends gab es ein geistiges Zuhause für mich – außer meinem eigenen, selbst erdachten. Ich streunte durch das Leben ohne Ziel und Sinn. Immerhin fand ich eine Arbeit, mit der ich über die Jahre hinweg meinen Lebensunterhalt verdienen konnte. Aber ansonsten kam ich nirgends an; und es ist unsicher, ob ich jemals irgendwo ankommen werde. Am Ende steht der alte Mensch, der ins Zugabteil tritt und sein Suchen aufgab.
...
Noch nicht. Die Lokomotive steht noch unter Dampf.
Ich weiß nicht, wohin die Reise geht. Weiter durch die Jahre.
Der Tod meiner Eltern überschattete dieses Jahr, 2013. Es ist wirklich und unwirklich zugleich. Ich finde keine Worte.
Dass heute Silvester ist, kümmert mich wenig. Die Arbeit im Altenheim ist dieselbe wie jede Nacht. Ich verstehe die Menschen nicht, die um Mitternacht Feuerwerke anzünden. Ich verstehe weder das Leben noch die Gesellschaft. Ich bin bei den Alten, die alles ebenso wenig verstehen, oder denen es inzwischen egal ist, wenn die Jahreszahlen wechseln. Die Zeitmaschine, in der wir alle sitzen, spuckt uns nach und nach aus. Einen nach dem anderen. Manchmal auch überraschend.
2013, 2014, 2015, 2016 … Vergangenheit und Zukunft wachsen unaufhörlich zusammen. Wir sind eingeschweißt in dieses Raumzeitgewebe. Der Zug durch die Jahre ist ein elend langer Reißverschluss, der das Morgen und das Gestern zusammenfügt.
Nein, ich bin nicht trübsinnig, nur etwas müde manchmal. Entschuldigt, ich möchte eure Feierlaune nicht stören.

Bleibt gesund und frohgemut. Allen einen guten Rutsch!

ein literarisches Tagebuch

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