Montag, 9. September 2013

Ausgrabungsstätten


Die Taxifahrerin erzählt mir von ihrer Angst, dass ihre Kinder irgendwann zur Flasche greifen könnten. Sie wohnt gegenüber eines Supermarktes und beobachtet, wie sich die Jugendlichen am Abend dort betrinken. „Auch die Mädchen“, sagt sie. Als Taxifahrerin sehe sie oft die negativen Auswirkungen aufgrund des Alkoholmissbrauchs. „Das kann ich mir vorstellen“, sage ich.
Die Straßen sind am Sonntagmorgen leer. Als ich am Hauptbahnhof ankomme, habe ich noch über eine Stunde, bis mein Zug fährt. Ich kaufe mir ein halbes Dutzend Bierdosen – für die Fahrt, für den ganzen Tag.
Ich finde einen Platz im Restaurant des Intercitys. Der Tag ist ziemlich düster. Ich bestelle ein Weizenbier und mache mich ans Lesen von John Fantes „Ask the Dust“ oder auf Deutsch „Ich – Arturo Bandini“. Die Lektüre verkürzt die Reise. John Fante schreibt ganz nach meinem Geschmack. Ich muss oft grinsen. Zwischendurch schaue ich auf den Hintern der Bedienung. Ihre Hose sitzt so eng, dass sich die Konturen des Schlüpfers durchdrücken. Bei Offenburg ist ein Wolkenloch, und ich hoffe auf schöneres Wetter. Es bleibt aber beim Loch.
Wir treffen uns wie die letzten Male am Rhein. Ich bin müde, weil ich in der Nacht nur wenig schlief. Ich wälzte mich unzählige Male im Bett hin und her und schaute auf die Uhr.
Ich erkenne sie sofort, als sie den Uferweg entlang kommt. Ich winke ihr, und sie winkt zurück.
Sie sitzt neben mir auf einer Bank, und ich trinke noch meine Bierdose aus. Es ist kühl, aber ich friere nicht. Im Rhein ist ein einzelner Schwimmer, der sich von der Strömung treiben lässt.
Wir entscheiden uns, die Römerstadt Augusta Raurica zu besuchen.
Das machen wir. Wieder sitze ich im Zug. Aber nur für wenige Minuten.
Beide waren wir noch nie dort.
Die Wolken hängen schwer und grau am Himmel und bewegen sich kaum. Ich fühle mich wohl an ihrer Seite. Sie ist gut einen Kopf kleiner als ich. Ich wundere mich, wie klein sie ist. Aber nur kurz.
Von der Haltestelle Kaiseraugst ist es ein kurzer Spaziergang zu den Überresten des Theaters von Augusta Raurica. Wir stromern durch die Ruinen, und schauen uns um. Außer uns sind nicht viele Besucher da, was sicher am schlechten Wetter liegt. Ein Kiosk hat geöffnet. Nachdem wir einiges erkundeten, setzen wir uns. Sie trinkt einen Kaffee, ich ein Bier.
Es beginnt zu regnen. Wir stellen uns unter das Vordach des Römermuseums. Sie kauft Eintrittskarten. Warum nicht, denke ich. Ich gehe selten in Museen. Wir sehen einiges Interessantes in den Schaukästen. Die Römer hatten schon was drauf. Kulturell waren sie der heutigen Zeit keineswegs unterlegen.
Das Museum ist nicht groß, und wir sind relativ schnell durch. Als wir raus kommen, hat es aufgehört zu regnen. Wir wollen noch etwas spazieren gehen. Hinunter an den Rhein. Bei einem Campingplatz finden wir einen schönen Platz auf einem hölzernen Bootsteg. Wir packen die Fressalien aus und picknicken. Käse, Brot und Oliven. Ein paar Enten schwimmen auf dem Rhein, der dort ganz ruhig daliegt wie die glatte Haut einer jungen Frau. Sie wirft ein paar Krümel Brot ins Wasser. Aber die Enten sind schon satt.
Dann fängt es wieder an zu regnen. Es ist schön zu sehen, wie sich immer mehr konzentrische Kreise auf der spiegelglatten Wasseroberfläche bilden. Schließlich packen wir das Picknick zusammen.
Unweit ist ein Spielplatz, und sie sagt, dass sie einen Unterstand für uns fand, ich solle ihr nur folgen. Wir klettern auf eine überdachte Kinderrutsche. Dort picknicken wir weiter. Und reden.
Wir reden viel, während es um uns herum regnet. Ich kann gar nicht sagen über was alles.
Wir sind einander vertraut und verbunden.
Die Zeit vergeht. Ich trinke von ihrer Weinflasche. Der Regen lässt nach, und wir steigen wieder hinunter. Manchmal schaue ich in ihr Gesicht, in ihre Augen und auf ihren Mund.
Wir spazieren zurück zum Bahnhof von Kaiseraugst.
Die Zeit lässt viele Lücken. Man muss nicht bis zu den Römern zurückblicken. Es reicht das eigene Leben. In mir selbst ist ein Museum meiner Geschichte. Vieles gibt es auszugraben. Oder sollte man es besser in der Erde lassen? Was bedeutet es, wenn wir es ausgraben?
Als wir in Basel ankommen, ist es Abend. Wir gehen in die Rio Bar. Es ist noch etwas Zeit, bis mein Zug nach Hause fährt. Sie stellt mir Fragen, die ich nur schwer beantworten kann. Es macht mich traurig, dass ihr Herz noch immer leidet.
Sie trinkt Chardonnay und ich Bier.
Dann muss ich los. Auf dem Barfüsserplatz warten wir auf die Tram, die zum Badischen Bahnhof fährt. Es regnet.
In der Tram sitze ich gegenüber einem alten Ehepaar. Er stößt mit dem Fuß ein paarmal an ihren, aber sie bleibt unberührt.





Theater Augusta Raurica

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